Willy Brandt: Friedenspolitik in unserer Zeit

Oslo, 11. Dezember 1971: Einen Tag nach der Entgegennahme des Friedensnobelpreises hält Bundeskanzler Willy Brandt an der Osloer Universität einen vielbeachteten Vortrag zum Thema „Friedenspolitik in unserer Zeit“. Darin unterstreicht er seine Grundauffassung: „Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. Kein nationales Interesse läßt sich heute noch von der Gesamtverantwortung für den Frieden trennen.“

Eine historische Rede, die aktueller denn je ist.


Der Friedensnobelpreis 1971 ist einem aktiven Politiker zuerkannt worden; also kann nur sein weitergehendes Bemühen, nicht eine abgeschlossene Leistung ge- würdigt worden sein.

Gestern habe ich danksagen dürfen, heute will ich über Friedenspolitik in unserer Zeit sprechen. Über meine Erfahrungen und natürlich darüber, was mein eigenes Land tun kann. Auch über das, was wir in Europa und von Europa aus für die Welt tun können. Es ist wenig genug, wie unsere Ohnmacht angesichts des neuen Krieges zwischen Indien und Pakistan verrät.

Meine Grundsätze will ich gerade jetzt deutlich unterstreichen: Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu be- grenzen. Kein nationales Interesse läßt sich heute noch von der Gesamtverantwor- tung für den Frieden trennen. Jede Außenpolitik muß dieser Einsicht dienen. Als Mittel einer europäischen und weltweiten Sicherheitspolitik hat sie Spannungen abzubauen und die Kommunikation über die Grenzen hinweg zu fördern.

Außenminister Walter Scheel und ich lassen uns davon leiten, daß es nicht genügt, friedfertige Absichten zu bekunden, sondern daß wir uns aktiv um die Organisation des Friedens zu bemühen haben.

Krieg führen – Frieden halten; unser Sprachgebrauch zeigt an, welche Herausfor- derung der Frieden ist, sobald wir ihn als eine permanente Aufgabe begreifen.

Wie man dem Krieg wehren kann, ist eine Frage, die zur europäischen Tradition gehört – Europa hat stets Grund genug gehabt, danach zu fragen. Der Politiker, der im täglichen Widerstreit der Interessen der Sache eines gerechten Friedens zu dienen sucht, zehrt von den ideellen Kräften, die die Generationen vor ihm ausge- formt haben. Bewußt oder unbewußt wird er von ihnen geleitet.

Unsere ethischen und sozialen Begriffe sind durch zwei Jahrtausende Christentum vor- und mitgeprägt. Und das heißt – trotz vieler Verirrungen unter dem Feld- zeichen des bellum justum, des „gerechten Krieges“ – immer wieder neue Ver- suche und Anstrengungen, um zum Frieden auch auf dieser Welt zu gelangen.

Unsere zweite Quelle ist der Humanismus und die mit ihm verbundene klassische Philosophie. Immanuel Kant verband seine Idee der verfassungsmäßigen Kon- föderation von Staaten mit einer uns Heutigen sehr deutlichen Fragestellung: Die Menschen werden eines Tages vor der Wahl stehen, entweder sich zu vereinigen unter einem wahren Recht der Völker, oder aber ihre ganze in Jahrtausenden auf- gebaute Zivilisation mit ein paar Schlägen wieder zu zerstören; und so wird die Not sie zu dem zwingen, was sie besser längst aus freier Vernunft getan hätten.

Eine dritte starke Quelle ist der Sozialismus mit seinem Streben nach gesellschaft- licher Gerechtigkeit im eigenen Staat und darüber hinaus. Und mit seiner Forde- rung, daß die Gesetze der Moral nicht nur zwischen einzelnen Bürgern, sondern auch zwischen Völkern und Staaten gelten sollen.

Friedenspolitik ist eine nüchterne Arbeit. Auch ich versuche, mit den Mitteln, die mir zu Gebote stehen, der Vernunft in meinem Lande und in der Welt voranzu- helfen: Jener Vernunft, die uns den Frieden befiehlt, weil der Unfriede ein anderes Wort für die extreme Unvernunft geworden ist.

Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.

(…)

Unter der Drohung einer Selbstvernichtung der Menschheit ist die Koexistenz zur Frage der Existenz überhaupt geworden. Koexistenz wurde nicht zu einer unter mehreren akzeptablen Möglichkeiten, sondern zur einzigen Chance zu überleben.

(…)

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die behaupten oder gar meinen, sie hätten immer recht gehabt. Mein Lebensweg verlangte, die eigene Position immer wieder zu durchdenken. Doch kann ich sagen, daß ich mich seit meiner Jugend von solchen Grundüberzeugungen habe leiten lassen, die zur guten Nachbarschaft führen sollen – im Innern und nach außen.

Als Berliner Bürgermeister habe ich erfahren, wie zugespitzte Lagen auf unser Denken einwirken. Ich habe dabei auch gewußt, daß Standhaftigkeit dem Frieden dient.

(…)

Von meiner Berliner Erfahrung ausgehend sagte ich, ein realistisches Selbstbewußt- sein brauche die Fühlung mit dem politischen und weltanschaulichen Gegner nicht zu fürchten. Die Unsicherheit der Zeit dürfe einen nicht selbst unsicher machen. Was nutze die Tuchfühlung, wenn man nicht bereit sei zu reden! Reden heiße aber doch auch verhandeln, mit der Bereitschaft zum Ausgleich, nicht zu einseitigen Konzessionen. Aktive Friedenspolitik bleibt ein langfristiger Test unserer geistigen und materiellen Lebenskraft.

Der Einsicht in die Abgründe eines globalen Krieges folgte die Erkenntnis, daß Probleme globalen Ausmaßes uns bedrängen: Hunger, Bevölkerungsexplosion, Umweltgefahren, Abnahme der natürlichen Vorräte. Diese Dimensionen kann nur ignorieren, wer den Untergang dieser Welt akzeptiert oder gar mit Wollust erwartet.

In unseren Jahren liefern die Gelehrten uns Bücher, die ausgezeichnet sind durch Sachkenntnis und tiefen Ernst. Da geht es nicht mehr um die Gegensätze zwischen Ideologien und Gesellschaftssystemen; da geht es um die Zukunft des Menschen, und ob er überhaupt eine Zukunft hat. Da geht es um Aufgaben, die die Grenzen jedes Staates und Kontinents überschreiten. Da wird Politik selber zur Wissenschaft; und diese Wissenschaft ist eine, an der gerade die reichen, die zivili- satorisch überlegenen Mächte gemeinsam teilnehmen müssen; es kann sie kein Staat mehr für sich allein betreiben.

Wir bedürfen des Friedens nicht nur im Sinn eines gewaltlosen Zustandes. Wir bedürfen seiner als Voraussetzung für jene rettende Zusammenarbeit, die ich meine. So wie sie den Frieden voraussetzt, so kann sie auch Frieden schaffen helfen. Denn da, wo rettende Zusammenarbeit ist, da ist Friede, da stellt auch Vertrauen mit der Zeit sich ein. Mein Land ist keine „große“ Macht mehr und kann es nicht mehr sein. Aber eine wirtschaftliche, wissenschaftliche Macht ist es ja wohl; und ich glaube, ich darf versichern, daß wir alle – worüber sich Regierung und Opposition sonst auch streiten mögen – zu einer solchen Zusammenarbeit bereit sind, jederzeit und überall.

(…)

Gemeinsame Probleme lösen heißt Bindungen und Verbindungen schaffen durch sinnvolle Kooperation der Staaten über die Grenzen der Blöcke hinweg. Dies heißt, Transformation des Konflikts. Dies heißt, wirkliche oder eingebildete Barrieren ab- tragen bei gegenseitigem friedlichen Risiko. Das heißt, Vertrauen schaffen durch praktisch funktionierende Regelungen. Und dieses Vertrauen mag dann die neue Basis werden, auf der alte, ungelöste Probleme lösbar werden. Diese Chance zu nutzen, kann die Chance Europas sein in einer Welt, in der erwiesen ist, daß sie nicht allein von Washington, von Moskau – oder von Peking – regiert werden kann.

So unverkennbar groß das Gewicht der Supermächte ist, so unbestreitbar bleibt, daß gleichzeitig weitere Kraftfelder entstehen. Hat es überhaupt Sinn, Zukunfts- rechnungen aufzustellen: Dann und dann wird es soundsoviele Großmächte geben? Unsere Welt steht im Zeichen der Vielzahl und des Wandels. Auch kleine Völker haben ihr Gewicht im großen Spiel; auch sie können Macht sein auf ihre Art; sie können helfen, sich und anderen; sie können auch sich und andere ge- fährden.

Das Einrücken der Volkrepublik China in die organisierte Staatengemeinschaft bedeutet nach meinem Verständnis keinen Übergang zur Tripolarität; es gibt mehr weltpolitische Kraftzentren als zwei oder drei. Aber es hat, von manchem anderen abgesehen, gewiß seine Bedeutung, daß das große China Entwicklungsland und Atommacht zugleich ist. Und daß bei den sich immer noch anhäufenden Proble- men in der Dritten Welt die Enttäuschung über die Industriestaaten zunimmt.

Europa, das seine ungebrochene Lebenskraft nach dem letzten Krieg bewies, hat seine Zukunft nicht hinter sich. Es wird sich im Westen über die Wirtschaftsgemein- schaft hinaus – im Sinne Jean Monnets – in einer Union zusammenfinden, die auch ein Stück weltpolitischer Verantwortung übernehmen kann, unabhängig von den USA, aber – wie ich sicher bin – fest mit ihnen verbunden. Gleichzeitig gibt es Chancen für gesamteuropäische Kooperation und Friedenssicherung, vielleicht so etwas wie eine europäische Partnerschaft für den Frieden; wenn ich nicht wüßte, welche praktischen und ideellen Hindernisse noch zu überwinden sind, würde ich hier sogar von einem europäischen Friedensbund sprechen.

IV.
Ich bin mir wohl bewußt, daß wir Deutschen in den Annalen des Nobelpreises auf den Gebieten der Chemie und der Physik besser abgeschnitten haben als auf dem des Friedens. Doch sind wir aber auch hier vertreten. Der Krieg hat immer nach dem Frieden gerufen. Auch in meinem Land hat es zumal an mutigen Theoretikern des Friedens nicht gefehlt.

Ich erinnere an den Friedenspreisträger des Jahres 1927, Professor Ludwig Quidde. Von seinen Einsichten als Geschichtsforscher hatte er sich der internatio- nalen Antikriegsbewegung verschrieben und war viele Jahre hindurch der Vor- sitzende der Deutschen Friedensgesellschaft. Im Ersten Weltkrieg wirkte er für den Bund Neues Vaterland – eine feine Camouflage für Europa –, dessen Geschäfts- führer der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter war und zu dessen ersten Mitgliedern Albert Einstein gehörte. Schon seit 1907 Mitglied des Bayerischen Landtages und dann 1919/20 der Weimarer Nationalversammlung, trat Quidde für Schiedsgerichtsbarkeit und Völkerbund ein. Er hat demokratische Zivilcourage unter Opfern vorgelebt; er starb im Exil.

Äußerlich sichtbarer ist meine Verbindung mit dem ersten deutschen Friedens- nobelpreisträger, mit Gustav Stresemann. Auch er war, als er den Preis empfing, aktiver Politiker. Gewiß, nicht nur nach den Zeitumständen, auch nach dem per- sönlichen und dem politischen Temperament trennt uns manches, und keine Rück- besinnung, die Würde hat, soll etwas künstlich einebnen. Und doch: Selten kann man etwas leisten ohne Vorgänger. Man muß dafür auch danken können.

Auf den Ersten Weltkrieg war wie auf den Zweiten ein Kalter Krieg der Verdächti- gungen und Bedrückungen gefolgt. Die Ära des Mißtrauens brachte die Völker Eu- ropas nicht weiter. Es war Stresemann, der fünf Jahre nach dem Waffenstillstand die Einsicht vertrat und gegen Widerstände drinnen und draußen durchsetzte, daß das Beharren auf längst unterhöhlten Standpunkten unfruchtbar bleiben mußte. Er war der Meinung, daß erst eine Sicherheit des Vertrauens wiederhergestellt wer- den müsse, ehe sich die Dinge zum Besseren wenden könnten. Nicht alle dachten wie er. Viele glaubten, ehe sich nicht manches gebessert habe, dürfe man das Mißtrauen nicht aufgeben. Das war und ist ein Problem, damals wie heute. Der damalige Reichsaußenminister war nicht vertrauensselig. Aber er kämpfte – und dafür brauchte auch er Zivilcourage – für eine Politik der Verständigung, für seine Friedenspolitik.

Das Verhältnis, das damals der Krieg am stärksten belastet hatte, war das deutsch- französische. Nirgendwo war der Berg des Mißtrauens höher. Stresemann ging dagegen an, und er fand ein Echo auf der anderen Seite, bei demjenigen, mit dem zusammen er den Friedenspreis erhalten sollte, bei Aristide Briand. Was sie ge- meinsam und – mit der Hilfe Englands – in Locarno erreichten, hat Stresemann an dieser Stelle so ausgedrückt: „Es ist einmal der Zustand des dauernden Friedens am Rhein, gewährleistet durch feierlichen Verzicht der beiden großen Nachbar- nationen auf Anwendung von Gewalt, gewährleistet durch die Verpflichtung ande- rer Staaten, demjenigen ihre Macht zu leihen, der entgegen dieser feierlichen Ver- einbarung Opfer der Gewalt wird.“

Sie werden verstehen, daß das, was mir diesen Satz so bedeutsam macht, der Begriff des Gewaltverzichts ist. Eine übelwollende Propaganda hat die deutsche Politik damals so mißverstanden oder mißdeutet, als habe man auf etwas verzich- tet, was den Deutschen von Rechts wegen gehörte. In Wirklichkeit verzichtete man auf Gewalt, um den anderen das Gefühl der Sicherheit zu geben und eine Ära des Vertrauens zu eröffnen.

Jener Zustand des dauernden Friedens, von dem Stresemann sprach, er ist dann – wir alle wissen es – von denen wieder umgestoßen worden, die insgeheim auf die Gewalt nicht verzichtet hatten. Und doch war, so meine ich, das Werk von Lo- carno nicht vergeblich. Es hatte Bahnen vorgezeichnet, auf denen andere nach dem abermaligen Krieg gehen konnten.

(…)

Wenn ich mich nun einigen Elementen eines möglichen europäischen Friedens- paktes zuwende, so halte ich mich nicht bei institutionellen Vorstellungen auf, die sich auf kürzere Sicht doch nicht verwirklichen lassen. Aber ich bekenne mich nachdrücklich zu den universellen Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts, so oft sie auch mißachtet werden. Sie haben in den Grundsätzen der Charta der Verein- ten Nationen ihren verbindlichen Ausdruck gefunden: Souveränität – territoriale In- tegrität – Gewaltlosigkeit – Selbstbestimmungsrecht der Völker – Menschenrechte.

Die Grundsätze sind unabdingbar, auch wenn es an ihrer Erfüllung so oft mangelt da und dort; das weiß ich. Übrigens gehört es zu den Härten im Leben eines Poli- tikers, besonders eines Regierungschefs, daß er nicht immer alles sagen darf, was er denkt; daß er, um des Friedens willen, seinen Gefühlen nicht immer freien Lauf lassen kann.

Ich möchte im übrigen betonen, daß meiner Überzeugung nach die gesamteuro- päische Sicherheit und Zusammenarbeit nicht beeinträchtigt wird, wenn die west- europäische Einigung weiter voranschreitet. Westeuropa mit Einschluß Großbri- tanniens, also die sich erweiternde Gemeinschaft, formiert sich nicht als Block gegen den Osten, sondern kann – auch durch die Stärkung ihrer sozialen Kompo- nente – zu einem besonders wichtigen Bauelement einer ausgewogenen europäi- schen Sicherheit werden. Fester Zusammenhalt im Innern steht nicht im Gegen- satz zu großer Offenheit in der Zusammenarbeit nach außen.

(…)

Der Organisierung des Friedens stehen starke Kräfte entgegen. Wir haben erfah- ren, in welche Barbarei der Mensch zurückfallen kann. Keine Religion, keine Ideo- logie, keine glanzvolle Entfaltung der Kultur schließt mit Sicherheit aus, daß aus den seelischen Tiefenschichten der Menschen Haß hervorbrechen und Völker ins Unheil reißen kann. Der Frieden ist so wenig wie die Freiheit ein Urzustand, den wir vorfinden: Wir müssen ihn machen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Dazu müssen wir noch mehr wissen über den Ursprung des Unfriedens. Auch hier liegen große Aufgaben für die Friedens- und Konfliktforschung. Ich meine: neben vernünftiger Politik ist Lernen in unserer Welt die eigentlich glaubhafte Alternative zur Gewalt.

Als Gegenkraft haben wir auch mit dem sacro egoismo zu rechnen, den großen geheiligten Egoismen der Gruppen. Wir sehen sie in Europa praktisch noch jeden Tag. Und der ungebändigte Nationalegoismus in den jungen Staaten entfaltet sich so schnell, daß es ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten scheint, den jahrhunder- telangen Vorsprung der alten Nationen einzuholen.

Ideologien, ihre Verkünder und Gläubiger setzen sich immer wieder über ethische Grundformen des Zusammenlebens hinweg, weil sie die Menschheit „besser“ machen, die Reinheit der Lehre wahren oder andere Lehren überwinden wollen. Zwischen solchen Kräften ist kein dauernder Friede zu stiften. Zur Frie- denspolitik gehört, sie zur Einsicht zu bringen, daß weder Staaten noch Ideologien Selbstzweck sind, sondern daß sie dem einzelnen Menschen und seiner sinnvollen Selbstverwirklichung zu dienen haben.

Der Anspruch auf das Absolute bedroht den Menschen. Wer sich im Besitze der ganzen Wahrheit glaubt, wer das Paradies nach seinen Vorstellungen heute und hier haben will, der zerstört nur zu leicht den Boden, auf dem eine menschen- würdige Ordnung wachsen kann. Auch in der Tradition der europäischen Demo- kratie lebt neben einem humanitären ein doktrinärer Zug, der zur Tyrannis führt; Befreiung wird dann zur Knechtschaft.

Junge Menschen erwarten oft von mir das ungebrochene Ja, das deutliche Nein. Aber mir ist es unmöglich geworden, an eine einzige, an d i e Wahrheit zu glau- ben. Also sage ich meinen jungen Freunden und anderen, die es hören wollen: es gibt mehrere Wahrheiten, nicht nur die eine, alles andere ausschließende Wahr- heit. Deshalb glaube ich an die Vielfalt und also an den Zweifel. Er ist produktiv. Er stellt das Bestehende in Frage. Er kann stark genug sein, versteinertes Unrecht aufzubrechen. Der Zweifel hat sich im Widerstand bewiesen. Er ist zäh genug, um Niederlagen zu überdauern und Sieger zu ernüchtern.

Heute wissen wir, wie reich und wie begrenzt zugleich der Mensch in seinen Mög- lichkeiten ist. Wir kennen ihn in seinen Aggressionen und in seiner Brüderlichkeit. Wir wissen, daß er imstande ist, seine Erfindungen für sein Wohl, aber auch selbst- zerstörerisch gegen sich anzuwenden. Nehmen wir Abschied von all den schreckli- chen Überforderungen. Ich glaube an tätiges Mitleid und also an die Verantwortung der Menschen. Und an die unbedingte Notwendigkeit des Friedens.

Als demokratischer Sozialist zielen mein Denken und meine Arbeit auf Verände- rungen. Nicht den Menschen will ich ummodeln, weil man ihn zerstört, wenn man ihn in ein System zwängt; aber ich glaube an die Veränderbarkeit menschlicher Verhältnisse.

In meinem Leben habe ich viele Illusionen wachsen und schwinden sehen. Viel Verwirrung, Eskapismus und Simplifikation. Hier mangelte Verantwortungsbewußt- sein, dort fehlte Phantasie. Aber ich habe auch erfahren, was Überzeugungstreue, Standhaftigkeit und Solidarität bedeuten können. Ich weiß, wie sich moralische Stärke gerade in größter Bedrängnis entfaltet. Manches, was totgesagt war, hat sich als lebendig erwiesen.

Alfred Nobel dachte ursprünglich daran, den Friedenspreis nur sechsmal alle fünf Jahre verteilen zu lassen; danach würde er nicht mehr nötig sein. Es hat länger gedauert. Sonst würde ich heute auch keine Gelegenheit gehabt haben, zu Ihnen zu sprechen.

Bertha von Suttner, Friedenspreisträgerin des Jahres 1905, hatte das positive Echo auf ihr Buch „Die Waffen nieder“ überschätzt. Ich gehöre noch zu denen, auf die es einen starken Eindruck gemacht hat, und nach allem anderen bekenne ich mich gern auch zu dem naiven Humanismus meiner ganz jungen Jahre.

Aber ich kann nicht aufhören, ohne Sie und mich an die zu erinnern, die in diesem Augenblick im Krieg leben und leiden, vor allem auf dem indischen Subkontinent und in Vietnam. Ich beziehe die Menschen im Nahen Osten und in anderen Krisen- gebieten mit ein. Mir ist nicht nach dem lauten Appell zumute. Es ist leicht, von anderen Maß, Vernunft, Bescheidung zu fordern. Aber diese Bitte kommt mir aus dem Herzen: Alle, die Macht haben, Krieg zu führen, möchten der Vernunft mächtig sein und Frieden halten.

Die Rede wurde an einigen Stellen gekürzt, wenn der Autor der Veröffentlichung dies für notwendig hielt, um eine langatmige Rede zu vermeiden

Quelle des Textes: Seite der „Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung“ www.willy-brandt-biografie.de

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