Thukydides: Europa und der Krieg

„Das Besorgniserregendste in Athen, so sagte er uns, war die schiere Rücksichtslosigkeit der eigenen demokratischen Regierung. Eine einfache Mehrheit der Bürgerschaft, die von geschickten Demagogen aufgepeitscht und empört wurde, war in der Lage, ihre Armeen in unnötige und anstrengende Abenteuer zu schicken“.

Der einflussreichste Mann der westlichen internationalen Beziehungen lebte vor mehr als 2500 Jahren im antiken Griechenland und war in der Lage, das Chaos und die Komplexität dessen, was sich vor seinen Augen abspielte, klar zu sehen und so zu beschreiben. Thukydides ist einer der Wegbereiter des Realismus, einer Strömung innerhalb der Theorie der internationalen Beziehungen, die die zentrale Rolle von Macht, Wettbewerb und nationalen Interessen in den Beziehungen zwischen Staaten betont. Thukydides zufolge handeln Staaten in erster Linie aus Eigeninteresse, und diese Interessen sind oft egoistisch und basieren auf dem Bedürfnis nach Sicherheit, Macht und Überleben. In seiner Analyse des Peloponnesischen Krieges zeigt er, wie die beteiligten Mächte (Athen und Sparta) ihre Entscheidungen auf der Grundlage dieser Faktoren trafen. 

Thukydides argumentiert, dass Konflikte in internationalen Beziehungen nicht nur das Ergebnis von Ideologie oder Kultur sind, sondern der menschlichen Natur entspringen. Furcht, Ehre und Interesse sind seiner Meinung nach die Haupttriebkräfte der internationalen Politik. Diese Sichtweise ist auch heute noch relevant, denn sie hilft zu erklären, warum internationale Akteure ihre Entscheidungen häufig auf der Grundlage dieser emotionalen und psychologischen Beweggründe treffen.

Der Grieche ist dafür bekannt, dass bei einer Machtasymmetrie zwischen zwei wichtigen Akteuren einer von ihnen in der Regel versucht, seinen Einfluss auszuweiten, was zu Konflikten führen kann. Dieses Konzept ist als „Falle des Thukydides“ bekannt und wird in zeitgenössischen Studien zur Erklärung der Aufstiegs- und Falldynamik von Großmächten herangezogen, wie z. B. im Fall der Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China. 

Ausgehend von einem Zitat des Philosophen Thukydides in seinem Werk „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“, in dem er postuliert: „Es war der Aufstieg Athens und die Furcht, die es Sparta einflößte, die den Krieg unvermeidlich machte“, postulierte der amerikanische Politikwissenschaftler und Autor Graham T. Allison die so genannte Thukydides-Falle und analysierte die Tendenz zu bewaffneten Konflikten, wenn eine dominante Macht (in diesem Fall Sparta) von einer anderen aufstrebenden Macht (in diesem Fall Athen) herausgefordert wird. In Graham Allisons Szenario sind die USA die Hegemonialmacht und die aufstrebende Macht ist China. Für unsere Zwecke hier nehmen wir als Bespiel Russland als dominierende Macht und die Ukraine als aufstrebende Macht.

Krieg in der Ukraine

Der preußische Militärhistoriker Carl von Clausewits postulierte eine Theorie, die auch heute noch sehr aktuell ist: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Clausewits‘ Weltanschauung hat dazu geführt, dass sein Postulat heute sowohl in militärischen als auch in wirtschaftswissenschaftlichen Schulen zu den am häufigsten analysierten gehört. Wendet man diese Theorie auf das Thema dieses Artikels an, so wird deutlich, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine seinen Ursprung in geopolitischen Interessen und Ambitionen hat, die das Handeln der kriegführenden Mächte geprägt haben. Und im Gegensatz zu der Art und Weise, wie das Thema in den meisten westlichen Medien und in der Politik behandelt wird, ist der Konflikt nicht Gegenstand einer Schwarz-Weiß- Dichotomie, und er ist auch nicht so einfach, dass man in die Arroganz der Einteilung in Gut und Böse verfallen könnte. 

Zur Erläuterung der internationalen Vorkriegskonjunktur ist ein interessanter Artikel von John Mearsheimer erwähnenswert. Er postulierte in Bound to fail im Jahr 2019, dass sich die unipolare liberale internationale Ordnung in einem fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung befindet. Der Professor für internationale Beziehungen an der University of Chicago argumentiert darin, dass der anhaltende Aufstieg Chinas und das Wiedererstarken Russlands in den Überresten seiner historischen Einflusssphäre bereits die historischen Konturen der Ära der amerikanischen Hegemonie und ihres liberalen ideologischen Modells auf der Grundlage des Binoms Marktwirtschaft/liberale Demokratie signalisieren. Die Ära des Nationalismus (Trumps „America First“ z.B.), der Selbstbestimmung und der Verteidigung der Souveränität war wieder da. Die Ära der Hyperglobalisierung war vorbei. Die multipolare Welt war mit dem Aufstieg Indiens und des globalen Südens geboren.

Im Jahr 2022 marschiert zum ersten Mal eine andere Macht als die USA in ein Land ein, unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts und gegen die Interessen und den ausdrücklichen Willen seiner Verbündeten, die nichts dagegen unternehmen können, weil die Folgen zu verheerend und unvorhersehbar wären. Aber selbst wenn Russland der Angreifer ist, können wir diejenigen nicht von der Verantwortung freisprechen, die in dem Wissen, was passieren könnte, wenn Russland sich zu sehr bedroht fühlt, die Schlinge weitergezogen haben.

Es ist akzeptabel, dass der Krieg in der Ukraine das x-te Beispiel für eine katastrophale Außenpolitik ist, bei der die ideologische Komponente, die Idee, dass die Welt nach dem Bild und Gleichnis von Euro-Amerika umgestaltet werden kann (was in diesem Fall bedeutete, die Ukraine dem Einfluss des bösen und illiberalen Russlands zu entziehen), letztendlich das strategische Urteilsvermögen trübte und eine Kette von Fehlern erzwang, die heute das unvermeidliche Ende der US-Hegemonie beschleunigen. Die katastrophalen Interventionen im Irak und in Afghanistan, in Libyen und Syrien folgten demselben Muster. Es ist die ideologische Dimension und nicht die Verfolgung reiner geostrategischer Interessen der USA (und letztendlich der NATO), die diese Interventionen zum Scheitern gebracht hat. Hätten diese Interessen überwogen, hätten diese Interventionen natürlich nicht stattgefunden, oder sie wären zumindest moderater und weniger kostspielig für die USA und Europa gewesen. Und natürlich auch für die Bevölkerungen der Länder, die unter ihnen gelitten haben. Wäre im aktuellen Fall nicht eine neutrale und entmilitarisierte Ukraine einem in die Arme Chinas gedrängten Russland vorzuziehen? Welche Großmacht in der Geschichte hat jemals zugelassen, dass man ihr ihren Einflussbereich wegnimmt?

Geopolitik und nicht die Ideen der Aufklärung!

Was die Ursachen für den bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine angeht, so gibt es zwei Strömungen, die die Ursachen des Krieges jeweils aus ihrer eigenen Perspektive erklären: den klassischen Realismus und – im Gegensatz dazu – den offensiven Neo-Realismus. Diejenigen, die ihre Schlussfolgerungen auf den klassischen Realismus stützen, weisen darauf hin, dass die Ursache des Konflikts die fortgesetzte territoriale Ausdehnung der NATO in den an Russland angrenzenden Gebieten ist, wobei einige Autoren die fortgesetzte territoriale Ausdehnung der NATO an den Grenzen Russlands im historischen Kontext nach dem Zusammenbruch der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) als eine der Hauptursachen des Krieges bezeichnen. 

Parallel dazu bestreiten diejenigen, die einen neokonservativen, offensiven Neo-Realismus vertreten, dass die NATO-Erweiterung durch die Annexion neuer Bündnisstaaten die Ursache des gegenwärtigen Konflikts ist; sie behaupten, dass der Ursprung des Krieges in den postsowjetischen Spannungen und Russlands ungezügeltem Wunsch nach territorialer Expansion liegt. Sie führen den Krieg auf ethnisch-expansionistische Ursachen zurück.

Daraus wird ersichtlich, dass die Kriegsparteien sich gegenseitig die Schuld zuschieben, dass es aber auch eine Gemeinsamkeit gibt, nämlich das Streben beider Mächte nach territorialer Vorherrschaft, wodurch ein Interessenkonflikt entstand, der zu einer bewaffneten Konfrontation führte.

In diesem kurzen Artikel geht es nicht darum, eine der beiden Parteien zu verteidigen und schon gar nicht darum, die Rollen von Opfer und Täter zu vertauschen. Vielmehr geht es darum, einen sehr komplexen Konflikt aus der Perspektive der internationalen Beziehungen und der Ideen von Thukydides zu analysieren. Einen Konflikt, dessen historische Analyse viele Seiten in Anspruch nehmen würde. Denn hier geht es nicht um Freiheit und die moralischen Pamphlete, mit denen viele US-amerikanische und europäische Politiker dem Konflikt Sensibilität und politische Emotionalität verleiht. Vielmehr geht es um konkrete und geopolitisch wesentliche Interessen, wie die immensen Bodenschätze und Energieressourcen und die Produktionskapazitäten für Lebensmittel in der Ostukraine sowie die Kontrolle über den Zugang zum Schwarzen Meer für den internationalen Handel (siehe z.B. US-Politikberater Zbigniew Brzezinski in „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“). Dies ist der entscheidende Punkt, den die meisten der europäischen politischen Klasse nicht verstanden haben, bis Trump auftauchte und das Tablett zuschlug. Es sind diese Blindheit und der Mangel an politisch-diplomatischer Strategie, die Europa vielleicht mit leeren Händen dastehen lassen werden, wenn der der Ukraine auferlegte Frieden vereinbart ist. Wertvolle Ressourcen werden von den Großmächten aufgeteilt, Europa wird den Wiederaufbau finanzieren, und die Ukraine wird ihre Millionen von Toten und Opfern auf eine höchst ungerechte Weise betrauern. Denn während das Wettrüsten die Taschen der NATO-Eliten (Rheinmetall usw.) füllt, müssen die auf dem Schlachtfeld getöteten Männer von der Ukraine geopfert werden. 

Die Thukydides-Falle ist unsere aktuelle Tragödie. 

Quelle: lpb Baden-Württemberg

Der Melierdialog des Thukydides

Graham T. Allison zufolge haben sich die Spannungen zwischen etablierten Weltmächten und aufstrebenden Mächten seit der Präventivniederlage der Spartaner gegen Athen 16 Mal in der Geschichte wiederholt. Von diesen 16 Mal gipfelte der Konflikt 12 Mal in einem Krieg, was ein sehr hoher Anteil ist. Das deutsche Beispiel ist sehr anschaulich. Im 20. Jahrhundert hat Deutschland zweimal versucht, sich als Weltmacht aus Europa zu etablieren. Beide Versuche lösten Weltkriege aus – 1914 und 1939 -, in denen Deutschland, das beide verlor, in Stücke gerissen wurde.  

Um auf Thukydides zurückzukommen: Seine Analyse des Krieges ist immer noch hochaktuell und gilt für Situationen, in denen eine aufstrebende Macht die Führung einer Hegemonialmacht herausfordert. Thukydides‘ Theorie hilft zu verstehen, warum der Aufstieg Chinas zu Spannungen und Kriegsrisiken führen kann – ein zentrales Anliegen der heutigen internationalen Politik.

Thukydides konzentrierte sich nicht nur auf kriegerische Konflikte, sondern auch auf die Dynamik von Verhandlungen, Bündnissen und Verrat. Dieser Ansatz ist nach wie vor von zentraler Bedeutung für die moderne Diplomatie und die Art und Weise, wie Staaten ihre internationalen Beziehungen gestalten. Die Bedeutung der Diplomatie, der Strategien des Mächtegleichgewichts und der internationalen Verhandlungen sind nach wie vor Schlüsselthemen, die Thukydides vor über zweitausend Jahren behandelte und die auch heute noch wichtig sind. 

Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges veranschaulicht auch heute noch die Gegenwart der internationalen Beziehungen und ist besonders aktuell, wenn eine der Supermächte den internationalen Frieden und die Sicherheit offen in Frage stellt, wie es Russland in der Ukraine tut, und dabei geopolitische und ethno-territoriale Gründe anführt, die unheilvolle Auswirkungen haben. 

Hiervor werdet ihr euch, wenn ihr euch wohl beratet, hüten und es nicht als Schande ansehen, euch der größten Stadt und ihren maßvollen Forderungen zu unterwerfen: Bleibt im Besitz eueres Landes und werdet tributpflichtige Bundesgenossen. Setzt bei der Wahl zwischen Krieg und Sicherheit euren Ehrgeiz nicht in das Schlechtere. Denn wer gegenüber Gleichen nicht nachgibt, dem Stärkeren mit Anstand begegnet und gegen die Schwächeren maßvoll ist, dürfte meistens erfolgreich sein. Prüft dies also und bedenkt oft, auch wenn wir gegangen sind, dass ihr über euer Vaterland entschließt. Ihr habt nur ein Vaterland und nur eine Entschließung. Wählt nicht die erste beste, wählt nicht die, die euch den Untergang bringt.

Thukydides 5.84–116: Melierdialog

Berühmt ist in diesem Zusammenhang der Dialog der Melier, eine Passage in Buch V des Geschichtswerk „Der Peloponnesische Krieg“, in der die Athener den Bewohnern der Insel Melos ein Ultimatum stellen: sich Athen zu ergeben und Tribut zu zahlen oder zerstört zu werden. Die Melier wehren sich und werden schließlich dem Erdboden gleichgemacht. Der bezeichnende Satz der Beziehung – „die Starken tun, was sie können, und die Schwachen erleiden, was sie müssen“ – wird ein Apophthegma der so genannten „realistischen Schule“ der internationalen Beziehungen darstellen. Das Schicksal der Melier im Vergleich zu dem der Ukraine ist in diesen Tagen Gegenstand von Analysen der Experten für internationale Beziehungen, wo sich die Kriegslandschaft mit einer neuen Positionierung der Vereinigten Staaten, die sich Russland (mit Unterstützung Chinas) annähern, und einer zunehmend isolierten Europäischen Union von Tag zu Tag radikal verändert. 

„Nein, im Rahmen des von uns als wahr Erkannten sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.“ 

Thukydides 5.84–116: Melierdialog

Heute wird Thukydides‘ Dialog der Melier zur Veranschaulichung des Dramas der Ukraine herangezogen, die mit dem russischen Vormarsch in einem globalen Kontext konfrontiert ist. Diese ist von Spannungen zwischen Moskau und einem „Westen“ geprägt, der von einigen europäischen Mächten wie dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Deutschland verkörpert wird und zunehmend als „neuer Kalter Krieg im europäischen Maßstab“ definiert werden kann. 

Die Rolle Lateinamerikas als Beispiel

Lateinamerika, das das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch als Schauplatz hinterhältiger oder offener Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten gelitten hat, weiß, was dies alles bedeutet. Sie wurde von der europäischen Einwanderung und Kultur genährt, und seine Gesellschaften sind das Ergebnis der Vermischung, die durch die Migrationsströme des Wohlstands hervorgerufen, aber auch durch die Kriege, Verfolgungen und Wirtschaftskrisen der entwickelten Welt vertrieben wurde.

Aber Lateinamerika, das sollte auch klar sein, ist eine heterogene Region. Sie ist eher ein disparates Konglomerat von Akteuren mit eigenen Positionen als ein Akteur mit gemeinsamen Positionen auf der internationalen Bühne. Dies hat sich auch bei den Positionen zum Krieg in der Ukraine gezeigt. Am gegenwärtigen Scheideweg kämpft jedes lateinamerikanische Land erneut mit einem schwierigen Dilemma, vielleicht einer zweiten „Thukydides-Falle“: Wie kann man eine von den „großen Akteuren“ aufgezwungene Einmischung vermeiden und gleichzeitig wissen, dass man nicht am Rande eines Konflikts bleiben kann, der vielfältige direkte und indirekte Auswirkungen und lokale, nationale und regionale Folgen für das Leben der Menschen hat. 

Einmal mehr wirft die Geschichte – und der Krieg – gleißende Lichter und Schatten auf die Gegenwart und bringt die Menschheit an den Abgrund. Angesichts der Neuordnung der USA ab Januar 2025 hat Lateinamerika jedoch zunehmend seine Bereitschaft für eine friedliche Lösung des Krieges in der Ukraine gezeigt und wird einen offenen Krieg mancher europäischen Länder gegen Russland nicht unterstützen. Es wäre im besten Interesse des Weltfriedens, den europäischen Rüstungswahn und die Paranoia dieser Tage zu vermeiden. 

In der Lehre der internationalen Beziehungen, der Verteidigungsstrategie und der Außenpolitik wird Thukydides auch heute noch herangezogen, um die mit langwierigen Konflikten und militärischen Interventionen verbundenen Risiken zu verstehen. Seine Sicht der internationalen Politik als Machtspiel, bei dem Sicherheit und Überleben die wichtigsten Ziele sind, beeinflusst die Art und Weise, wie Regierungen ihre Verteidigungspolitik gestalten und Konfliktsituationen bewältigen. 

Quelle: Zeit Online

Wir brauchen Entspannungspolitik

Im Großen und Ganzen erweist sich der Krieg in der Ukraine auch als ein weiteres kollektives Versagen Europas, das einmal mehr nicht in der Lage war, eine Friedensordnung auszuarbeiten, die das Gespenst des Krieges auf dem Kontinent dauerhaft bannen würde. Auch in der Frage, wie man mit einem so komplexen (und diktatorischen) Nachbarn wie Russland verhandeln und koexistieren kann. Schließlich wird es auf dem Kontinent niemals dauerhaften Frieden und Sicherheit geben, solange Europa und Russland keine respektvolle Koexistenz auf Augenhöhe pflegen.

Europa war das kriegerischste Territorium der Welt: Von 1500 bis 2000 befand es sich ca. 75 % der Zeit im Krieg. Seit dem 20. Jahrhundert ist es dem Friedensprojekt „Europäische Union“ gelungen, interne Kriege zu vermeiden, ohne jedoch seine Interessen zu vernachlässigen, indem es andere Völker unterdrückt hat, wie beispielsweise mehrere afrikanische Länder. Nach jedem Konflikt ist Europa eine Sprosse auf der Leiter der Dekadenz hinabgestiegen.

Wird die Kriegsneigung Europas jetzt wieder lebendig? Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Rückgriff auf den Krieg mehr durch politische Entscheidungen als durch kritische, alternativlose Szenarien bedingt ist.. Wie Robert D. Kaplan feststellt, hat Europa das tragische Gespür für die Geschichte verloren und dabei die Geschichte selbst und ihre Lehren vergessen. Die Paranoia vor einem russischen Angriff und das Wettrüsten (Waffen als Lösung aller Probleme), einschließlich der Pläne für eine atomare Aufrüstung, bestätigen diese These.

Wieder Krieg?

Der Ukraine-Krieg wäre eines der fenomeni morbosi – morbiden Symptome (die ein- und mehrfachen Konflikte im Nahen Osten wären ein weiteres), die Antonio Gramsci den Perioden des Interregnums zuschreibt, jenen Scharnier-Intervallen zwischen dem alten Zustand der Dinge und dem neuen Zustand im Werden. Aus dieser Perspektive wäre der Ukraine-Konflikt historisch in den Rahmen der Störungen einzuschreiben, die die Übergangsphasen zwischen zwei Ordnungen, der untergehenden neoliberalen Ordnung und der zukünftigen post-westlichen Ordnung, fatal begleiten. 

Europa hat den Aufstieg der fernen Macht (USA) besser verkraftet als den Aufstieg der nahen Macht (Russland). Von Egon Bahr (Willy Brandts Berater und Schöpfer der Ostpolitik) wird der Satz überliefert, für Deutschland sei Amerika unverzichtbar, aber Russland sei unverrückbar. Das ist für einen Europäer das Mindestmaß an Rechtfertigung dafür, jeden Dialogweg offenzuhalten. Wahr ist aber auch, dass Russland ein im Kern europäisches Land beeindruckender Schönheit, Musik, Kunst, Kultur und mit gastfreundlichen Menschen ist. Es hat die falsche Regierung: einen Regenten, der auf Autokratie, auf weltweit wirksame Machtspielchen setzt, der nicht geliebt, sondern gefürchtet sein will. Das ist eine Entscheidung, deren Konsequenzen er tragen muss. (1)

Die Beziehungen zu Russland, die einst von einem Gefühl der Überlegenheit beseelt waren, sind heute von einem Gefühl der Unsicherheit und des Ressentiments, vom Verlust des Selbstbewusstseins der Europäer beseelt. Der alte Kontinent leidet unter Hypochondrie und fühlt sich zerbrechlich und verletzlich wie eine Festung, die von realen und eingebildeten Gefahren belagert wird.

In Deutschland herrscht in diesen Tagen eine kollektive, von Politik und Medien geschürte Paranoia, dass Russland Europa angreifen wird und wir uns deshalb so gut wie möglich aufrüsten müssen. Eine besorgniserregende Russophobie macht sich breit, die einerseits behauptet, Russland sei schwach und man könne den Krieg gegen es gewinnen, und andererseits, Russland werde Europa unmittelbar angreifen. Nein, das ist nicht Teil der Realität, und russische Truppen stehen nicht kurz vor dem Brandenburger Tor. All diese Phänomene haben wenig mit internationalen Beziehungen zu tun und sind sehr wohl das, was Thukydides als die Gefahren von Leidenschaften beschreibt, die durch Stolz, Arroganz und Angst motiviert sind; Leidenschaften, die in die Irre führen und zu absurden und sehr gefährlichen Entscheidungen führen können.

Irgendwann in der Zukunft wird Europa in der Lage sein müssen, ein unkomplizierteres Verhältnis zu Russland zu entwickeln, das Henry Kissingers nicht-rhetorische Frage beantworten kann: Wollen wir ein Russland, das Chinas Vorposten für Europa ist, oder ein Russland, das Europas Vorposten für China ist?

Europas Herangehensweise an den Krieg in der Ukraine war eher axiologisch als geopolitisch, mehr von einem emotionalen Reflex als von strategischem Kalkül geleitet. Sie war eher von der Weber’schen Ethik der Überzeugung und der „arroganten Zuschreibung der Verteidigung der Freiheit“ als von der Ethik der Verantwortung und der Vorausschau auf die Folgen motiviert. Und vielleicht ist es deshalb nicht gelungen, der Versuchung des Manichäismus und der Freund-Feind-Dialektik des geschmähten Carl Schmitt zu entgehen. Europa, das dazu neigt, seine Werte auch auf Kosten seiner eigenen Interessen zu privilegieren, wird in Zukunft das Schiedsverfahren zwischen den beiden besser lösen müssen, wenn es der geopolitische Akteur werden will, den die Zeit verlangt. Gelingt ihm dies nicht, wird es seinen Weg der universellen Katechese fortsetzen, auf die Gefahr hin, ein Moralprediger mit symbolischer geistlicher Macht und zeitlicher Macht ohne Einfluss zu werden.

Europa steht vor einer großen Tragödie des Thukydides: Wird es nun alles auf den Krieg setzen?

Quelle: vaticannews.va

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