Wagner: Parsifal, sakrale Musik und Erlösung

Wagner: Parsifal, sakrale Musik und Erlösung

Vortrag von Gabriel Valdez am 12. März 2024 für den Richard-Wagner-Verband Bonn

Religion, ein zentrales Thema bei Wagner?

Es gibt zwei zentrale Themen in Wagners Werk: die Liebe in ihren verschiedenen Formen und die Religion als Matrix, deren äußerer Ausdruck die Kunst ist. In welchem Sinne kann man sagen, dass die Religion ein zentrales Thema bei Wagner ist? War Wagner ein gläubiger oder leidenschaftlicher Anhänger der Religion? Wir würden sagen, eher nicht. Wagners Kunstbegriff, als guter Romantiker, ist mit dem der Religion verbunden. Sein Vorbild ist das Theater der griechischen Antike, insbesondere die Tragödie, die dem Gott Dionysos gewidmet ist. Erinnern wir uns, dass die griechische Tragödie jene antagonistische Dualität zwischen dem Dionysischen (Ekstase, Chaos, ungezügelte Sinne) und dem Apollinischen (Schönheit, Ästhetik und Vollkommenheit der Formen) verkörpert, wie Nietzsche es ausdrückt. 

Für die Griechen waren diese Darbietungen keine bloße Unterhaltung, eine rein künstlerische Erfahrung, sondern eine echte Katharsis, bei der der Dichter als Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen auftrat, d. h. sie hatte einen religiösen Charakter. Es war eine „totale“ Erfahrung im Sinne von „Totalität“, da alle Künste beteiligt waren und sie eine transzendente Bedeutung über das rein Künstlerische hinaus hatte. Religion und Kunst gingen Hand in Hand. Es handelt sich um eine menschliche Konstante, die schon in prähistorischen Zeiten existiert haben soll. Es ist diese enge Beziehung zwischen Religion und Kunst, die für Wagner von besonderem Interesse ist. 

Wenn wir uns auf das Mittelalter beziehen, können wir sagen, dass aus der Liturgie das Theater entsteht. Das heißt, aus sakralen Ritualen und religiösen Darbietungen entstehen schließlich das profane Theater und die Oper, da sakrale Rituale, wie die griechischen Tragödien, mit Schauspiel und Musik verbunden sind. Aus diesem Grund wird Wagner dem Drama immer einen höheren Wert beimessen als der banalen Ablenkungsoper oder Operette seiner Zeit und wird sich vor deren Kommerzialisierung ekeln. Aus dem, was er für die griechische Tragödie hielt, würde er später sein Konzept des Gesamtkunstwerks entwickeln. Daher auch die Bedeutung, die er dem Mythos als wahre Schöpfung des Volkes beimisst. Der Mythos bringt zum Ausdruck den tiefsten Teil des Wesens eines Volkes in Bezug auf seinen intimsten Glauben. Erinnern wir uns, dass sogar die Idee des Festspielhauses von den Griechen stammt, von den Amphitheatern, in denen Tragödien aufgeführt wurden.


Wagner und die Religion 

All dies bezieht sich auf Wagners Konzept von Religion und Kunst, gibt uns aber keine Hinweise auf sein persönliches religiöses Denken, falls er eines hatte. Wir müssen seine theoretischen Schriften, Briefe, Lesungen… und nicht zuletzt seine Opern und Dramen heranziehen, wobei zu bedenken ist, dass ein Kunst-Werk nicht notwendigerweise die Ideen seines Autors zum Ausdruck bringt. War Wagner gläubig? Hat er seine religiösen Vorstellungen im Laufe der Zeit geändert? Wie stand er zur katholischen Kirche? Hatte Wagner die Absicht, eine neue Religion zu schaffen, die Wagnersche Religion, deren Wallfahrtsort das Festspielhaus in Bayreuth sein sollte?

Diese und ähnliche Fragen lassen sich nicht einsilbig beantworten. Es ist notwendig, zu lesen, zu analysieren und zu reflektieren, in dem Bewusstsein, dass unsere Schlussfolgerung nicht die einzig mögliche sein wird, da es keine Einstimmigkeit zu diesem Thema gibt und es partielle und interessierte Ansichten gibt. 

Die erste Tatsache ist, dass Wagner als Protestant getauft wurde. Er war immer ziemlich antikatholisch, besonders antipäpstlich. In seiner Jugend stand er dem Christentum sehr kritisch gegenüber, änderte aber nach seiner schopenhauerschen Konversion seine Meinung und zeigte eine Vorliebe für das Christentum. Dies verleugnet nicht die Tatsache, dass er gleichzeitig eine Bewunderung für den Buddhismus hegte, ebenfalls unter dem Einfluss von Schopenhauer. An einen persönlichen Gott hat er nie geglaubt, und er war auch kein Anhänger einer Religion. Wagner sagte einmal zu Cosima, er könne sich nicht Gott vorstellen, sondern die „Göttlichkeit“, die nicht die Projektion von außen nach innen, von Gott zum Menschen ist, sondern von innen nach außen, d. h. die Göttlichkeit ist im Menschen. Diese Überlegungen gehen auf den Philosophen Ludwig Feuerbach zurück, der behauptete, dass nicht Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, sondern dass Gott im Gegenteil die idealisierte Projektion des zutiefst Menschlichen ist. Es ist wichtig klarzustellen, dass Wagner zwar nicht im konventionellen religiösen Sinne gläubig war, dies aber nicht bedeutet, dass er sich nicht für Religion interessierte, ganz im Gegenteil. 

Wagner war weder in seiner Jugend noch in seiner Reifezeit ein glühender Gläubiger. Die Philosophen (Feuerbach, Schopenhauer, Nietzsche), die einen Einfluss auf ihn hatten oder mit ihm in Beziehung standen, waren es auch nicht. Wir können jedoch verstehen, dass sein Glaube an Gott Teil seiner Kunst ist, das heißt, Wagner erkennt das Göttliche und die sakralen Formen in der Kunst an. So sagt er in seinem Roman „Eine Pilgerfahrt zu Beethoven“ (1840): 

„Ich glaube an Gott, Mozart und Beethoven. Ich glaube an den heiligen Geist und an die Wahrheit der einen unteilbaren Kunst. Ich glaube, dass die Kunst von Gott ausgeht und in den Herzen aller erleuchteten Menschen lebt. Ich glaube, dass alle durch diese Kunst selig werden.“

Dieses persönliche Credo Wagners (obwohl es fiktiv ist, da es Teil eines Romans ist) gibt Anlass zu vielen Interpretationen. Ich persönlich glaube, dass unser Komponist ein tiefes Verständnis und Bewusstsein für die Bedeutung von Spiritualität, Heiligkeit und Erlösung im christlichen Sinne hatte.

Typische Wagnersche Themen wie Schuld, Buße und Erlösung haben in seinen frühen Werken eher eine weltliche oder soziologische Bedeutung. Betrachtet man die eindeutig antiklerikalen und antikatholischen Tendenzen der 1830er Jahre, so wird deutlich, dass die religiösen Elemente in Tannhäuser und Lohengrin eher eine Reaktion auf die Zugeständnisse des Geschmacks und der Realität des 19. Jahrhunderts sind als auf Wagners persönliche Überzeugungen. Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass Wagner sein eigenes Credo zu Lebzeiten entwickelt hat, da die religiösen Elemente seines letzten Werks Parsifal eher auf eine persönliche Haltung als auf die Bedürfnisse der Zeit reagieren. Wagners Glaubensbekenntnis war ein existenzieller Prozess, könnte man sagen; ein Credo, das über die mythischen Symbole seiner Kunst vermittelt wurde, der Wagner zumindest seit der Entstehungszeit von Das Kunstwerk der Zukunft (1849) eine quasi-religiöse Funktion und Bedeutung gab. (Barry Millington) 

Bayreuther Festspiele 1955.

Feuerbach und Schopenhauer

Bevor ich den Parsifal behandle, halte ich es für notwendig, auf das religiöse Konzept der beiden Philosophen einzugehen, die den Komponisten am meisten beeinflusst haben. Einige Autoren behaupten, dass es einen jungen, revolutionären und atheistischen Wagner gibt, der von Feuerbach beeinflusst wird, und einen reifen, reaktionären und frommen Wagner, der unter dem Einfluss von Schopenhauer steht.

Ich stelle die Hypothese auf, dass Wagner nach dem Scheitern der revolutionären Versuche von 1848 zwar eine enorme Enttäuschung erlitt, sein Denken aber im Wesentlichen sein ganzes Leben lang sehr ähnlich war. Die Entdeckung von Arthur Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ war jedoch ein transzendentales Ereignis in seinem Leben, und man könnte sagen, dass dort eine neue Phase begann: eine Schopenhauersche Phase bis zum Ende seines Lebens, mit einem großen Interesse am Buddhismus und am Christentum. Sowohl Wagner, wie auch vorher Schopenhauer, hatte von da an ein Credo, das einen Neo-Buddhismus mit Brahmanismus und Christentum vermischte. Um es mit Schopenhauer zu sagen: „Ich gebe den Glauben nicht auf, daß die Lehren des Christentums irgendwie aus jenen Urreligionen abzuleiten sind“.

Dasselbe lesen wir in einem Brief von Wagner an Liszt vom 7. Juni 1855:

„daß das reine, ungemischte Christentum, nichts andres als ein Zweig des ehrwürdigen Buddhaismus ist, der nach Alexanders indischem Zuge auch seinen Weg bis an die Küsten des Mittelmeeres fand“. 

Auf der religiösen Seite war er trotz seines besonderen Interesses an der Religion immer ein Atheist. In dieser Hinsicht muss man sagen, dass beide Philosophen (Feuerbach/Schopenhauer) in zwei scheinbar widersprüchlichen Dingen übereinstimmen:

1. Sie gehören zu den ersten, die sich klar und offen atheistisch äußern: Götter sind eine Erfindung der Menschen.

2. Trotzdem haben sie eine positive Sicht auf das Christentum: Es ist die Krönung aller Religionen.

Ausgehend von den beiden vorangegangenen Postulaten sollte es nicht paradox sein, dass Wagner sich selbst als Christ bezeichnete, obwohl er eine atheistische Vorstellung vom religiösen Phänomen hatte. Diese philosophischen Einflüsse scheinen mir grundlegend für das Verständnis des Parsifal und seiner Beziehung zur sakralen Musik zu sein.


Die Einheit von Wagners Werk und Denken. Eine verkappte Religion?

Meiner Hypothese zufolge stimmt es nicht, dass es einen atheistischen Wagner und einen frommen (katholischen, wie manche meinen) Wagner gibt, die seiner angeblichen ersten und zweiten Phase entsprechen, ebenso wenig wie es stimmt, dass ein fundamentalistischer und reaktionärer Wagner auf den revolutionären folgte. Wagner saugt die Ideen seiner Zeit auf wie ein Schwamm, ohne dass das Neue das Alte völlig verdrängt.

Deshalb ist sein Denken auch so widersprüchlich und komplex. Er war ja ein Genie! Und das gilt nicht nur für seine politischen, religiösen oder philosophischen Ideen, sondern auch für sein Werk, das untrennbar mit den Ideen verbunden ist, die sich in seinen theoretischen Schriften und seiner eigenen Lebenserfahrung widerspiegeln. 

Wagner verleugnet nie seine widersprüchliche Religiosität, die sowohl in seinen Schriften als auch in seinen Opern und Dramen immer wieder auftaucht. Gregor-Dellin zufolge sind Wagners Schriften aus der Zeit von 1849-51 eine verkappte Religion. Der Komponist vertrat nämlich die Ansicht, dass die alten Griechen in ihren Dramen nicht nur die Gesamtheit der Künste, sondern auch die Religion, verstanden als echte Manifestation des kollektiven Geistes des Volkes, vereinten. 

In einem Gespräch mit einem katholischen Priester sagte er mir einmal, dass er Wagners Werk sehr schätze. Nachdem wir das Thema Parsifal und Kirchenmusik ein wenig gestreift hatten, sagte er mir, dass er sich die Musik des Parsifal für eine religiöse Feier (d.h. als Einzugsmusik) sehr schön vorstelle. Dieses Gespräch hat mein Interesse geweckt, über Wagners Intention für den Parsifal und seine Beziehung zur sakralen Musik nachzudenken. 

Ich bin davon überzeugt, dass Wagners Interesse am Katholizismus viel mit der Liturgie in ihrem theatralischen Aspekt und sehr wenig mit ihrem Dogma zu tun hatte. Man berichtete, dass Wagner sich einmal mit einem katholischen Priester über die Eucharistie beraten hat. Ein Wagner-Biograph sagt, dass diejenigen, die den Katholizismus im Parsifal sehen, sich irren, und ich denke, er hat Recht. Was Wagner am meisten interessierte, waren die liturgischen Elemente des Katholizismus. Wenn wir uns in Wagners Zeit versetzen, denken wir daran, dass die katholische Liturgie damals noch sehr traditionell war: Die Messe war in Latein, der Priester zelebrierte mit dem Rücken zum Volk (Ad Orientem), die religiösen Gewänder waren pompös und von großer Schönheit, die liturgische Gesänge waren noch aus der Gregorianik (und systematisiert!). Die Liturgie war von einer besonderen Ästhetik geprägt. Sogar während der Messe sprach der Priester die Worte der Wandlung während der Eucharistie auf Latein, mit leiser Stimme, mit demütiger Haltung und in einer Atmosphäre völliger Mystik. Es waren diese Elemente, die Wagner am meisten ansprachen.

Wagner entnahm daher dem Katholizismus die liturgischen Elemente und die sakrale Musik, die die liturgischen Feiern begleitete. An der Moral und der Lehre des katholischen Lehramtes war er nicht interessiert. Im Parsifal finden sich auch buddhistische Anspielungen (Einfluss von Schopenhauer), die gut gemischt mit christlichen Bräuchen und Lehren sind. 

Es ist bekannt, dass der Parsifal der eigentliche Grund für die Trennung zwischen Nietzsche und Wagner war. Der Philosoph war der Ansicht, dass der Komponist die atheistischen Ideen, die sie teilten, aufgegeben hatte und frommgeworden war. Er nannte dieses Werk sogar ein „Evangelium für Wagnerianer“. Für den Autor des Antichrist hatte Wagner sich selbst verraten. Ich persönlich glaube jedoch, dass Nietzsches Ressentiment ihn zu einer ungerechten Interpretation dieses Werkes verleitet hat. Wie wir annehmen, war Wagners Interesse an christlichen Symbolen darauf zurückzuführen, dass er sie in seinem Werk verwenden wollte, weil sie dem deutschen Volk besser bekannt waren als die alte germanisch-skandinavische Mythologie. Was er beabsichtigte, war die Verwendung von leicht erkennbaren populären Symbolen und Mythen, die im 19. Jahrhundert dem Christentum entsprachen.

Ludwig Feuerbach
Arthur Schopenhauer

Parsifal oder Wagners Testament 

Wald, schattig und ernst, doch nicht düster. Eine Lichtung in der Mitte ist Wagners Hinweis auf die erste Szene des Parsifal. Nicht Dunkelheit, sondern Schatten erfüllt das Bild, mystisches Halbdunkel, so dass sich die ganze Handlung in einem schattigen Wald abspielt, in dessen Mitte sich eine Lichtung befindet. In dieser Spannung zwischen Wald und Lichtung (die sich für Heidegger in jedem Kunstwerk abspielt) liegt der Raum, in dem sich die Dekadenzerscheinungen der Gralsgesellschaft, der Verfall einer nicht wiederherstellbaren Ordnung, die die Weisheit des Urchristentums vergessen hat, manifestieren werden. 

Parsifal ist die letzte Etappe von Wagners Dramenzyklus und der Höhepunkt des großen Projekts, eine zweite Renaissance des musikalischen Dramas im Abendland herbeizuführen, als Erbe der antiken griechischen Tragödie. 

Lange bevor Wagner dem Parsifal seine endgültige Form gab, hatte er an zwei Skizzen gearbeitet. Im Jahr 1848 stellte er den Entwurf für ein Drama mit dem Titel Jesus von Nazareth fertig, und 1856 notierte er einige Ideen für ein buddhistisches Drama, das er Die Sieger nannte. Diese beiden Projekte wurden vorübergehend zurückgestellt, um sich intensiv dem dramatischen Zyklus Der Ring des Nibelungen und Tristan und Isolde zu widmen. Später sollten Jesus und Buddha, die historischen Figuren in beiden Projekten, in der mythologischen Figur des Parsifal aufgehen, dem End-Produkt aller in den vorangegangenen Werken beschriebenen menschlichen Kämpfe und einer Synthese der grundlegenden spirituellen Traditionen des Ostens und des Westens. 

Auf diese Weise wurde das Historische aufgelöst, was der Wagnerschen Konzeption der Tragödie entspricht, in der die Erzählung der Ereignisse in einer außerzeitlichen Dimension angesiedelt ist. Die komplexe Synthese des Mythologischen, des Historischen und des Religiösen steht im Dienste von Wagners letztem Horizont: der Regeneration einer frivolen und materialistischen Gesellschaft, in der Kunst und Kultur nur noch eine ornamentale Funktion haben. Wie wir bereits gesagt haben, hat die Kunst eine religiöse Funktion, die eng mit der Erlösung verbunden ist.

Parsifal ist eine Synthese der grundlegenden Probleme des menschlichen Wesens, in der viele Figuren und Symbole die Dinge darstellen, die dem Menschen am meisten am Herzen liegen. Innerhalb dieser Figuren ist das Problem der Erlösung die Hauptachse, um die sich die anderen Motive drehen. Ist die Kunst eine Form der Erlösung des menschlichen Wesens? Schopenhauer glaubte, dass die Kunst, insbesondere die Musik als der vollkommenste Ausdruck der Kunst, zu einer Art Erlösung führen könne. Es ist gut möglich, dass dieser Gedanke für König Ludwig II. sehr wesentlich war, der ein fast erlösungsähnliches Ende in der Musik hatte (um es romantisch auszudrücken). 

Die Sehnsucht nach der Erlösung der Menschheit durch den Geist der Entsagung und des Mitleids ist das große Leitmotiv des gesamten Werkes des Komponisten. Auf jeden Fall ist Parsifal weder eine Oper noch eine bloße Bühnenhandlung, sondern ein Werk, das die Grenzen der dramatischen Gattung überschreitet, die dem deutschen Komponisten besonders und heilig war. Es ist unter anderem ein Zeugnis von Wagners Faszination für die Philosophie Schopenhauers, die eine Revision nicht nur der modernen Gesellschaft und Zivilisation, sondern auch der christlichen Orthodoxie vorschlägt, und zwar durch die höchste Kunstform, das Musikdrama. 

Wagner kannte die kirchliche Sakralmusik (Mozart, Beethoven) sehr gut und wusste ihre Elemente für seinen Parsifal zu nutzen. Wagner erreicht eine noch nie dagewesene Einheit, indem er mit einem Minimum an Elementen ein Maximum an Tiefe ausdrückt und Formen der liturgischen Musik in das dramatische Werk einbezieht. Es handelt sich um ein Genie, das sowohl einer westlichen als auch einer östlichen Idee entspricht: Das Einfachste und Partikulärste ist Ausdruck des Ewigen, des Transzendenten und Göttlichen. 

In diesem Sinne baut die Musik von Parsifal auf der Grundlage der kirchlichen Tradition (Sakralmusik) auf und öffnet gleichzeitig die Tür zur Musik der Zukunft. Mit einer unendlichen Ausdruckskraft werden tonale Schwingungen akzentuiert, die aus einfachen Motiven und Harmonien zu ungewöhnlichen Ausdrucksmöglichkeiten führen, die eine ebenso ungewisse wie fruchtbare Zukunft ankündigen. Die chromatische Angst – d. h. das Fehlen von Stabilität oder klaren tonalen Bezugspunkten – ist das musikalische Äquivalent zum verzweifelten Warten auf den Erlöser. Ebenso tragen mehrere musikalische Faktoren zu einer sakralen Aura bei, die sich vom ersten Präludium an durch das gesamte Werk zieht. Es gibt eine ständige Suche nach Resonanz durch ein Auf und Ab der Gefühle, eine unerbittliche Qual, die Schmerz ausdrückt und blutet wie Amfortas‘ Wunde, aber gleichzeitig ein tiefes Gefühl der Erlösung und Erleichterung, das im Leitmotiv des Glaubens oder dem Karfreitagszauber zum Ausdruck kommt. Wenn Sie den Parsifal in Bayreuth oder in einem Theater erlebt haben, werden Sie wissen, wovon ich spreche. 

Im Parsifal finden wir mehrere Zitate und musikalische Einflüsse aus der christlichen Liturgie sowie aus der kirchlichen Barockmusik. Die Chöre – im dritten Akt und vor allem im ersten Akt – verwenden Elemente der Vokalpolyphonie von Giovanni Pierluigi da Palestrina. Palestrina war ein italienischer Renaissance-Komponist liturgischer Musik und der bekannteste Vertreter der katholischen Kirchenmusik. Es ist auch bekannt, dass Wagner bei der Arbeit an Parsifal mit den Partituren dieses großen italienischen Musikers in Berührung gekommen ist. 

An dieser Stelle können wir uns nun fragen: Warum hat Wagner gegen Ende seines Lebens ein so sakrales und transzendentes Werk wie den Parsifal komponiert? Hier können wir viele Vermutungen anstellen. 

Erstens könnte man sagen, dass Wagners Parsifal der exemplarische Fall eines Alterswerkes ist. In seiner Klanglichkeit vermeidet er riskante Extreme, strebt nach einer angenehmen Mitte und versucht in einer Art gebremster Bewegung die Zeit zu dehnen.

Andererseits ist die Hinwendung zum Religiösen und Transzendenten ein Phänomen des Alters. Dahinter steht nicht nur die Angst vor dem Ende des Lebens und das Bewusstsein des Todes. Hier gewinnt die Frage: Was gibt es nach dem Tod? eine große Bedeutung zu. Künstler von Richard Wagners Format fühlen sich als Repräsentanten ihrer Zeit, ihrer Kultur, ja der gesamten Menschheit. In diesem Selbstbewusstsein drängen sich die transzendentalen Fragen am Ende des Lebens fast zwangsläufig auf.

Um den religiösen Aspekt des Parsifal etwas besser zu verstehen, sollten wir uns auf zwei andere große Persönlichkeiten der abendländischen Kultur beziehen: Goethe und Dante Alighieri. 

Der zweite Teil des Faust, in dem sich der deutsche Dichter mit komplexen Themen wie Erlösung, Seelenheil und Transzendenz auseinandersetzt, wurde am Ende seines Lebens geschrieben, und obwohl Goethe nie ein glühender Gläubiger war, zeigt er die Sorgen seiner Zeit, wie es auch bei Wagner der Fall war. Weder Goethe noch Wagner waren wirklich gläubige und praktizierende Christen, aber mit zunehmendem Alter wurden sie sich der kulturellen Bedeutung der Religion immer mehr bewusst.

Ein charakteristisches Merkmal von Parsifal und Faust ist die Verwandlung. Im Parsifal ist die Verwandlung nicht nur die des unschuldigen Jünglings, sondern auch die von Amfortas und Kundry. Wagner sagte, seine Inspiration für Parsifal sei ein Karfreitag gewesen. Erinnern wir uns daran, dass die Karwoche immer mit dem ersten Vollmond des Frühlings zusammenfällt. Es ist wahrscheinlich so, dass dieses Ereignis Wagners eigentliche Inspiration war, d. h. Ostern ist in gewisser Weise ein Frühlingsfest. Der erste Frühlingsvollmond steht auch für die Erneuerung und Verwandlung der Natur. Verwandlung, neues Leben, kreisförmige Zeit: alles Elemente des Parsifal. 

Verwandlung ist auch die große christliche Verheißung. Die Einrichtung des Fegefeuers, die Dante zwischen Inferno und Paradiso (dem Hades und dem Olymp der Antike) errichtet hat, bedeutet einen Ausweg aus dem schicksalhaften Selbst, die Möglichkeit eines geläuterten Neuanfangs. 

So sehen wir, wie verschiedene christliche Elemente wie Erneuerung, Erbarmen, Erlösung und Verwandlung für die Göttliche Komödie, Faust und Parsifal charakteristisch sind. 

Franz Liszt hat seine Dante-Sinfonie nicht umsonst Wagner gewidmet. Diese Liszt-Sinfonie wurde in den 1850er Jahren in Weimar komponiert. Liszts ursprüngliche Absicht war es, das Werk in drei Teilen zu komponieren: einem Inferno, einem Purgatorio und einem Paradiso. Die ersten beiden sollten rein instrumental sein, der letzte Teil sollte chorisch sein. Wagner (Oktober 1856 in Zürich) überzeugte Liszt jedoch, dass kein irdischer Komponist die Freuden des Paradieses getreu wiedergeben könne. Liszt verzichtete auf den dritten Teil, fügte aber am Ende des zweiten Teils ein choralartiges Magnificat ein, um den Blick zum Himmel im Zustand der Erlösung auszudrücken. 

Liszt spürte sehr wohl, dass Wagner eine große Affinität zur religiösen Sphäre hatte, und in der Tat inspirierten mehrere musikalische Aspekte von Dantes Symphonie Wagners Fantasie und seinen Parsifal. Wir können drei Einflüsse feststellen: 

Die Einflüsse des Inferno-Satzes auf die Klingsor-Musik, 

der Einfluss des Beginns des Fegefeuers für den Karfreitagszauber, 

und der Einfluss des Magnificat für die Apotheose des dritten Aufzuges:


Wagners Erlösung 

Die Gründe für die Hinwendung zum Religiösen und Sakralen im Parsifal waren, wie bereits eingangs reflektiert, weniger religiöser Natur, sondern ein Bedürfnis Wagners, sich mit allen Bereichen der musikalischen Erfahrung auseinanderzusetzen. So wie Goethe im zweiten Teil des Faust nicht nur sein eigenes Leben Revue passieren lässt, sondern gleichzeitig alle kulturellen Horizonte von der Antike bis zur Gegenwart durchmisst, so war es für Wagner wichtig, nichts auszulassen, um sein Gesamtkunstwerk zu erreichen. Deshalb sagen wir, der Parsifal ist Wagners Testament. Das Genie des Komponisten erreicht einen beeindruckenden Höhepunkt mit einem allumfassenden Werk. Dieses Werk umfasst alles und vor allem Wagners Leben selbst. 

Vielen fällt es schwer, sich vorzustellen, wie weit so universelle Künstlernaturen wie Goethe und Wagner in ihrer Selbststilisierung und Selbstverherrlichung gehen können. Aber so wie Goethe sich in der Schlussszene des Faust mit Faust identifiziert, identifiziert sich Wagner als Amfortas und Parsifal mit Jesus Christus, im Leiden und in der Verwandlung der Erlösung.

Die kryptische Formel am Ende des Werkes „Erlösung dem Erlöser“, die zu vielen Spekulationen Anlass gegeben hat, entspricht letztlich einfach der Doppelrolle dieses Werkes als Testament: Wagner ist sowohl der Erlöser als auch der Erlösende. Dante und Goethe tun dasselbe, wenn sie sich in ihrer eigenen Dichtung in den Himmel aufsteigen lassen.

Diese Sehnsucht nach einem totalen Kunstwerk mag für viele abstoßend sein, aber es ist diese radikale Vision von sich selbst, in der die Kunst ganz bei sich selbst ist. Die Strahlkraft dieser Kunst entsteht gerade dadurch, dass die ästhetische Erfahrung auch einen religiösen Charakter hat. Diese Kunst setzt eine ursprüngliche Vision der menschlichen Erfahrung ohne Filter frei, sie erzeugt Katharsis, sie bewegt die Nerven. In der Doppelidentität von Amfortas und Parsifal entsteht durch den Austausch von Subjekt und Objekt die Illusion einer Wiedergeburt, eine Erlösung zum ewigen Leben.

Über Parsifals religiösen Charakter, seine Erlösung, sein Mitgefühl und seine Liebe könnte man noch viel mehr sagen. In unserer Konsumgesellschaft geraten individuelle Seelenfragen immer mehr in Vergessenheit, die Kunst wird kommerzialisiert und das Musikdrama ist oft nur noch ein bürgerlicher Luxus. Und doch fordert uns die dramatisch-musikalische Liturgie Wagners weiterhin heraus, indem sie den vergessenen Weg wiederherstellt, der dem menschlichen Geist in seiner Hilflosigkeit und Angst zur Erlösung bestimmt ist. Ihre Zeichen sind weiterhin bedeutungsvoll, denn als Archetypen appellieren sie an die heiligen Tiefen eines jeden menschlichen Kollektivs. In seiner Entschlossenheit, den Eintritt des Historischen in seine heiligen Musikdramen zu verweigern, hatte Wagner jedenfalls die Intuition, die der Religionsphilosoph Eliade später systematisieren sollte: Heilige Zeit und profane Zeit folgen nicht gleichzeitig aufeinander, weil sie inkommensurable Dimensionen sind. Um an der Wagnerschen Liturgie teilzunehmen, muss man die gewöhnliche zeitliche Dauer verlassen, um die reaktualisierte mythische Zeit wieder zu integrieren. (Eliade, Das Heilige und das Profane, 1957, S. 53).

Die mythische Aurea des Parsifal wird immer wieder reaktualisiert, weil sie uns in eine mythische Zeit eintauchen lässt, die unabhängig von der Zeit des Alltags ist. Bedeutet diese sakrale Musik des Parsifal also eine Flucht aus der Realität? Kann dieses Werk seine Relevanz in der Zukunft, die von künstlicher Intelligenz und einer technologisierten Kunst geprägt ist, beibehalten? Diese und viele andere Fragen sind noch zu klären. Aber eines ist klar: Parsifal ist ein so universelles und menschliches Werk, weil es die tiefsten Sinne des Seins berührt, dass es seine ästhetische Bedeutung der Erlösung wohl kaum verlieren wird. 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Bild Porträt: Parsifal, Rogelio de Egusquiza y Barrena (1845-1915), Museo Del Prado, Madrid.

Quellen:

  • Ausgewählte Schriften und Briefe: Richard Wagner, Fischer Klassik, 2013.
  • Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. III, editiert und kommentiert von Martin Gregor- Dellin und Dietrich Mack, München/Zürich, 1982.
  • Das Wagner-Kompendium: Sein Leben – seine Musik Hardcover: Barry Millington, 1996.
  • Die Erlösung in Wagners „Parsifal“, Hausarbeit (Hauptseminar), Dr. Lore Gewehr, 2010

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