Am 8. November 2007 legte die Generalversammlung der Vereinten Nationen fest, dass jeder 15. September als Internationaler Tag der Demokratie gefeiert wird, wobei die erste Feier im folgenden Jahr stattfinden sollte.
Die Demokratie als Regierungsform wurde bereits im antiken Griechenland geboren, aber bis heute ist sie nicht in der ganzen Welt gleichermaßen etabliert, wir können sogar einen Rückschritt der liberalen Demokratie in verschiedenen Punkten Osteuropas oder Amerikas beobachten. In Lateinamerika zum Beispiel hat die Demokratie als politisches System keine 40 Jahre ununterbrochene Ausübung erreicht, deshalb werden sie gewöhnlich als Spät- oder Entwicklungsdemokratien bezeichnet. Daher ist die Förderung und totale Konsolidierung dieses Systems unabdingbar, und es kann durch Militärregierungen, Fraktionsmächte, Diktaturen oder andere Formen (z.B. die derzeitige "Lawfare", mit der weiche Staatsstreiche gegen demokratische Regierungen durchgeführt werden) gefährdet oder sogar unterbrochen werden.
Obwohl das sichtbarste Merkmal der Demokratie, die Wahlen, nach wie vor stark ausgeprägt ist und sich in einigen Ländern sogar verbessert, sind die nicht auf Wahlen beruhenden Aspekte der Demokratie, wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit, zunehmend bedroht.
Selbst in Demokratien werden einige Bevölkerungsgruppen (in der Regel Frauen, einige soziale Gruppen und die weniger Wohlhabenden) systematisch benachteiligt, wenn es um den Zugang zur politischen Macht geht. Auch die politische Ausgrenzung aufgrund des sozioökonomischen Status wird immer gravierender, parallel zu einem Prozess, in dem sich die wirtschaftliche Ungleichheit ausbreitet.
Demokratie ist ein universeller Wert, aber gleichzeitig gibt es kein einheitliches Demokratiemodell, sondern eine Reihe von Interpretationen, die gemeinsame Prinzipien und Werte teilen. Es ist jedoch diese konzeptionelle Breite, die es notwendig macht, Praktiken zu fördern, die die demokratische Kultur festigen und die Bürger für ihre Pflichten und Rechte sensibilisieren. Zu diesem Zweck schlage ich einige Texte und Reflexionen einiger wichtiger Philosophen über Demokratie vor, die uns helfen werden, über die heutige Demokratie und die Herausforderungen der Zukunft nachzudenken.
Aristoteles: Eine verfeinerte Verfassungstypologie
„(1.) An diese Feststellungen schließt sich nun unmittelbar jene Betrachtung selber an, wie viele Verfassungen es gibt und welches dieselben sind. Und zwar beginnen wir dabei mit den richtigen Verfassungen, denn sind diese erst festgestellt, so müssen sich daraus auch ihre Abarten ergeben. Da nun Staatsverfassung (politeía) und Staatsregierung (políteuma) ein und dasselbe bedeuten, die Staatsregierung aber die oberste Gewalt (kýrion) der Staaten (pólis) ist, so muß diese Gewalt entweder von einem oder von wenigen oder von der Mehrzahl des Volkes repräsentiert werden.
Wenn dieser eine oder diese wenigen oder die Mehrzahl des Volkes bei ihrer Regierung das allgemeine Wohl im Auge haben, so ergeben sich in allen drei Fällen richtige Verfassungen; wenn aber nur den eigenen Nutzen des einen oder der wenigen oder der großen Mehrzahl, dann bloße Abarten, denn entweder verdienen die Teilnehmer gar nicht den Namen von Staatsbürgern (polítes), oder aber sie müssen auch alle Anteil an den Vorteilen haben. Diejenige Art von Alleinherrschaft nun aber, welche auf das Gemein35 wohl ihr Augenmerk richtet, pflegen wir Königtum (basileía) zu nennen, die Herrschaft von wenigen, aber doch immer von mehr als einem Aristokratie, sei es nun, daß dies heißen soll Herrschaft der Besten oder daß es bedeutet, ihr Zweck sei das Beste des Staates und der Gemeinschaft; wenn endlich die Mehrzahl des Volkes den Staat mit Rücksicht auf das Gemeinwohl verwaltet, so wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politeia benannt. Dies mit Recht: denn daß ein einzelner oder eine Minderzahl sich durch besondere Tugend (areté) auszeichnet, kann leicht vorkommen, daß aber eine größere Zahl es zu jeder Art von Tugend im strengen Sinne bringt, ist schon eine schwierige Sache, und am ehesten ist dies noch möglich in Bezug auf die kriegerische Tüchtigkeit, denn das ist eine Tugend der Massen.
Daher ist auf Grund dieser Verfassung die oberste Staatsgewalt bei der wehrhaften Bevölkerung, und diejenigen, welche an den Staatsrechten teilhaben, sind hier die Waffentragenden.
(2.) Die Abarten der genannten Verfassungen sind nun aber: vom Königtum die Tyrannis, von der Aristokratie die Oligarchie und von der Politeia die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine solche Art von Alleinherrschaft, welche lediglich zum Vorteil des Monarchen, Oligarchie eine solche Herrschaft, welche zu dem der Reichen, und Demokratie eine solche, welche zu dem der Armen geführt wird, und auf das, was dem ganzen Gemeinwesen frommt, sieht keine von ihnen.“ (Aristoteles: Politik. 3.7. 1279 a24-b10)
John Locke: Über die Regierung
„Da, wie gezeigt worden ist, bei der ersten Vereinigung der Menschen zu einer Gesellschaft die Menschheit naturgemäß die ganze Gewalt der Gemeinschaft in sich hat, kann sie alle diese Gewalt anwenden, um von Zeit zu Zeit Gesetze für die Gemeinschaft zu geben und diese Gesetze durch Beamte ihrer eigenen Wahl zu vollziehen: in diesem Fall ist die Form der Regierung eine vollkommene Demokratie. Oder sie kann die Gewalt der Gesetzgebung in die Hände einiger weniger auserwählter Männer und ihrer Erben oder Nachfolger legen, dann ist es eine Oligarchie; oder in die Hände eines einzigen Manns, dann ist es eine Monarchie. Wenn sie ihm und seinen Erben übertragen wird, ist es eine erbliche Monarchie; wenn nur auf Lebenszeit, bei seinem Tod aber die Macht, einen Nachfolger zu ernennen an die Mehrheit zurückfällt, eine Wahlmonarchie. Demgemäß kann die Gemeinschaft zusammengesetzte und gemischte Regierungsformen bilden, wie sie es für gut hält. Und wenn die legislative Gewalt von der Mehrheit zuerst einer oder mehreren Personen nur auf Lebenszeit oder auf eine beschränkte Zeit gegeben worden ist, und die höchste Gewalt dann an die Gemeinschaft zurückfällt, kann, sobald dies geschehen, die Gemeinschaft von neuem darüber verfügen, sie in die Hände legen, welche sie will, und so eine neue Regierungsform schafen. Denn, da die Form der Regierung von der Art der Einsetzung der höchsten Gewalt, welche die Legislative ist, abhängt, — denn es ist unmöglich zu begreifen, daß eine untergeordnete Gewalt einer höheren Vorschriften machen, oder irgendeine andere als die höchste Gewalt Gesetze geben sollte, — so ist, je nachdem die Gewalt Gesetze zu geben eingesetzt ist, auch die Form des Staatswesens (commonwealth).“ (Locke, John: Über die Regierung. Kapitel 10, Von den Formen eines Staatswesens)
Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag
„Das Staatsoberhaupt kann zunächst die Regierung dem ganzen Volke oder doch dem größten Teile des Volkes übertragen, so dass es mehr mit obrigkeitlichen Ämtern betraute Staatsbürger als bloße Privatleute gibt. Diese Regierungsform nennt man Demokratie. Oder es kann die Regierung in die Hände weniger legen, so dass die Zahl der einfachen Staatsbürger größer als die der obrigkeitlichen Personen ist; diese Regierungsform wird Aristokratie genannt.
Endlich kann es die ganze Regierung den Händen eines einzigen anvertrauen, von dem alle anderen Obrigkeiten ihre Macht empfangen. Diese dritte Form ist die allgemeinste, und heißt Monarchie oder königliche Regierung. Hierbei ist zu beachten, dass alle diese Formen oder wenigstens die beiden ersten mehr oder weniger gestaltungsfähig sind und sogar einen ziemlich weiten Spielraum zulassen; denn die Demokratie kann das ganze Volk umfassen oder sich auf die Hälfte beschränken. Die Aristokratie kann sie ihrerseits wieder von der Hälfte des Volkes an bis auf die kleinste Zahl von unbestimmbarer Größe beschränken. Sogar das Königtum ist einer Teilung fähig. Nach seiner Verfassung hatte Sparta beständig zwei Könige, und im römischen Reiche gab es mitunter acht Kaiser auf einmal, ohne dass man hätte sagen können, das Reich wäre geteilt gewesen. Auf diese Weise gibt es einen Punkt, wo eine Regierungsform in die andere übergeht, und man sieht, dass unter nur drei Benennungen die Regierung in der Tat ebenso vieler verschiedener Formen fähig ist, wie der Staat Bürger hat.
Noch mehr: da sich eine und dieselbe Regierung in gewisser Hinsicht wieder in andere Teile zu zerlegen vermag, von denen der eine auf diese, der andere auf jene Weise verwaltet wird, so kann aus der Verbindung dieser drei Formen eine Menge vermischter Formen entstehen, deren jede mit allen einfachen Formen multiplizierbar ist.
Man hat von jeher viel über die beste Regierungsform gestritten, ohne zu berücksichtigen, dass jede einzelne in gewissen Fällen die beste und in anderen die schlechteste ist. Wenn in den verschiedenen Staaten die Zahl der höchsten Regierungsbeamten im ungekehrten Verhältnisse mit der Zahl der Staatsbürger stehen muss, so folgt daraus, dass im allgemeinen für die kleinen Staaten die demokratische Regierung, für die mittleren die aristokratische und für die großen die monarchische die geeignetste ist. Diese Regel ist die unmittelbare Folge des aufgestellten Prinzips; aber wer vermöchte die Menge der Umstände aufzuzählen, die Ausnahmen hervorrufen können.“ (Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. 3. Kapitel)
Niklas Luhmann: Die Zukunft der Demokratie
„Je nachdem, welchen Begriff von Demokratie wir uns machen, sieht auch die Zukunft der Demokratie verschieden aus; und je nach der Zukunft sieht man dann auch in der Gegenwart schon Probleme, von denen man glaubt, daß andere sie nicht sehen oder sie nicht ernst genug nehmen. Wenn es bei Demokratie um Vernunft und Freiheit, um Emanzipation aus gesellschaftlich bedingter Unmündigkeit, um Hunger und Not, um politische, rassistische, sexistische und religiöse Unterdrückung, um Frieden und um säkulares Glück jeder Art geht, dann sieht es in der Tat schlimm aus. Und zwar so schlimm, daß die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß alles, was man dagegen tut, die Verhältnisse nur noch verschlimmert. Darüber zu reden möchte ich anderen überlassen. Selbst bei einem engeren Begriff von Demokratie sind aber noch Eingrenzungsentscheidungen zu treffen, wenn man Boden unter die Füße bekommen will. Und auch hier gilt es, Unmöglichkeiten oder Extremunwahrscheinlichkeiten aus dem Begriff auszuschließen.
Demokratie ist nicht:
1. Herrschaft des Volkes über das Volk. Sie ist nicht kurzentschlossene Selbstreferenz im Begriff der Herrschaft. Sie ist also nicht: Aufhebung von Herrschaft, Annullierung von Macht durch Macht. In einer herrschaftstheoretisch fixierten Sprache ist dies die einzige Möglichkeit, Selbstreferenz auszudrücken; und das dürfte auch der Grund sein, weshalb das Wort Demokratie‘ überlebt hat. Theoretisch aber ist die Annahme, daß das Volk sich selbst beherrschen könne, unbrauchbar.
Demokratie ist auch nicht:
2. ein Prinzip, nach dem alle Entscheidungen partizipabel gemacht werden müssen; denn das würde heißen: alle Entscheidungen in Entscheidungen über Entscheidungen aufzulösen. Die Folge wäre eine ins Endlose gehende Vermehrung der Entscheidungslasten, eine riesige Teledemobürokratisierung und eine letzte Intransparenz der Machtverhältnisse mit Begünstigung der Insider, die genau dies durchschauen und in diesem trüben Wasser sehen und schwimmen können.
Statt dessen schlage ich vor, unter Demokratie die Spaltung der Spitze zu verstehen: die Spaltung der Spitze des ausdifferenzierten politischen Systems durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition. Man kann, in systemtheoretischer Terminologie, auch von Codierung des politischen Systems sprechen, wobei Codierung nichts anderes heißt, als daß das System sich an einer Differenz von positivern und negativem Wert orientiert: an der Differenz von wahr und unwahr im Falle der Wissenschaft, an der Differenz von Recht und Unrecht im Falle des Rechtssysterns, an der Differenz von Immanenz und Transzendenz im Falle des Religionssystems, und im Falle des politischen Systems eben an der Differenz von Regierung und Opposition.
Solange die Gesamtgesellschaft durch das Prinzip stratifikatorischer Differenzierung hierarchisch geordnet war, war eine solche Spaltung der Spitze undenkbar gewesen bzw. hätte Erfahrungen wie Schisma oder Bürgerkrieg, also Unordnung und Kalamität assoziiert. Erst wenn die Gesellschaft so strukturiert ist, daß sie als Gesellschaft keine Spitze mehr braucht, sondern sich horizontal in Funktionssysteme gliedert, wird es möglich, daß Politik mit gespaltener Spitze operiert. Die Politik verliert in dieser Situation, die heute unausweichlich ist, die Möglichkeit der Repräsentation. Sie kann sich nicht anmaßen, das Ganze im Ganzen zu sein – oder auch nur zu vertreten. Sie gewinnt aber die Möglichkeit einer eigenen Codierung.“ (Luhmann, Niklas: Die Zukunft der Demokratie. In: Der Traum der Vernunft. Vom Elend der Aufklärung. Darmstadt/Neuwied 1986, S. 207-217)
πάντα ῥεῖ
Gabriel Valdez
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