Eine Absichtserklärung: Descartes und Kant.

Eine Absichtserklärung: Descartes und Kant.

Irgendwo muss man ja anfangen: Eine Absichtserklärung

Dass man sich über die Gültigkeit des kategorischen Imperativs einig ist, bedeutet leider oft noch nicht, dass man sich einig ist, was getan werden sollte. Es wird also nicht leicht. Trotzdem kann der Versuch nicht schaden, solange man im Zweifelsfall noch auf provisorische Hilfestellungen zurückgreifen kann.

René Descartes beschreibt in seinem Discours de la Méthode von 1637, den man vielleicht als Vorbereitung auf die vier Jahre später erschienenen Meditationes de Prima Philosophia verstehen kann, wie er plant, nachdem er sämtliche noch verbleibenden eventuell schädlichen oder störenden Grundsätze beseitigt hat, zu sicherem Wissen zu kommen. Die Darstellung soll streng sein und alles soll zwingend aus jeweils bereits zuvor gesicherten Grundsätzen gefolgert werden.

Auf das genauere Vorgehen werde ich eventuell an anderer Stelle eingehen, doch schon auf den ersten Blick scheint das Vorhaben kein allzu leichtes zu werden. Selbstverständlich würde idealerweise jede Entscheidung auf diese Weise getroffen, streng folgend aus sicheren Grundlagen, so klar uns natürlich auch aus allen Bereichen des Lebens ist, dass das selten passiert. Doch muss man irgendwie anfangen und zumindest liegt hier ein Vorschlag vor, wenn auch mit der Betonung, dass er nur das eigene Vorgehen beschreibe und keineswegs präskriptiv für die Untersuchungen anderer zu verstehen sei. Ich möchte trotzdem versuchen, mich hier nach einem möglichen Anfang umzusehen. Eine der in meinen Augen wichtigsten Stellen in diesem vorbereitenden Werk möchte ich direkt vorweg nehmen, obwohl sie bereits aus dem dritten Kapitel stammt, also schon nach der Darlegung der Hauptregeln der Methode. In diesem Kapitel stellt Descartes sich einige Leitlinien für den Zwischenzustand zwischen seinem alten, noch ungesicherten Wissen und dem kommenden, gesicherten Wissen auf, provisorische Regeln für den Übergang. Er umschreibt das sehr schön in den folgenden Worten:

Endlich genügt es nicht, das Haus, in dem man wohnt, nur abzureißen, bevor man mit dem Wiederaufbau beginnt, und für Baumaterial und Architekten zu sorgen oder sich selbst in der Architektur zu üben und außerdem den Grundriß dazu sorgfältig entworfen zu haben, sondern man muß auch für ein anderes Haus vorgesorgt haben, in dem man während der Bauzeit bequem untergebracht ist.

Nun bin ich, trotz einer besonderen persönlichen Affinität seinem Werk gegenüber, in sehr vielen Punkten nicht einer Meinung mit Descartes: sicherlich sind die Gesetze, Sitten und religiösen Vorstellungen an die er sich der Einfachheit wegen halten möchte, nicht dieselben wie die Normen, die ich für den Moment als pragmatische Orientierungsmöglichkeiten wählen möchte. Auch werde ich in meinen Untersuchungen sicherlich nicht zu dem Schluss kommen, nichtmenschliche Tiere könnten keinen Schmerz empfinden. Doch man kommt kaum ohne eine provisorische Regelung aus. Sollte es ganz unmöglich sein, für alles eine Letztbegründung zu finden, ist eine Reihe von nützlichen Dogmen und Heuristiken vielleicht sogar das beste, das wir überhaupt erreichen können. Die noch recht vagen, da provisorischen Sittenregeln, nach denen ich mich für den Moment richte, sind die folgenden: Leid ist zu vermeiden. Das gilt nicht nur für Leid, das ich empfinde, sondern ganz allgemein für alle Wesen, von denen man annehmen kann, dass sie hinreichend ähnlich empfinden können, wozu ich (für den Moment) sämtliche Säugetiere, Reptilien, Vögel und (sicherheitshalber) Fische und überhaupt die allermeisten Tiere zählen

Leid, so behaupte ich für den Moment, lässt sich insgesamt am besten reduzieren, indem man selbst darauf achtet, es nicht aktiv zu verursachen und andererseits im Rahmen der eigenen sozio-ökonomischen Möglichkeiten dabei hilft, eine Welt zu schaffen, die weniger extremes Leid begünstigt, etwa durch demokratische Wahlen, Protestaktionen und Aufklärung aller Art. Hier kommen wir wieder zurück zu Descartes‘ weiteren provisorischen Grundsätzen: ein weiterer lautet, in den eigenen Taten möglichst entschlossen zu sein. Auch das möchte ich, soweit es geht, versuchen und möglichst wenig aufschieben, obgleich ich mich schon in naher Zukunft wieder selbst daran scheitern sehe.

Der nächste Grundsatz war, stark verkürzt, nichts zu wollen, das außerhalb des Möglichen liege und sich nach wiederholten Fehlschlägen mit weniger zufriedenzugeben, da eben nichts in unserer Macht stehe als unsere Gedanken. Im Rückblick aus einer Zeit nach Freud ist wohl hinzuzufügen, dass man auch bei diesen manchmal daran zweifeln kann, wie sehr sie das tun. Dennoch halte ich diesen Vorsatz für sinnvoll.

Auch die vierte und letzte moralische Übergangsregel, die Descartes wählt, scheint mir, obwohl der Autor hier nur sein eigenes Vorgehen ohne Anspruch auf objektive Wirksamkeit beschreibt, außerordentlich sinnvoll im Zusammenhang des hier verfolgten Ziels: Da doch die bisherigen Grundsätze gerade deswegen übernommen wurden, weil sie einen Nutzen in der Übergangsphase der strengen Untersuchung haben und es ja auch nur ein wirklich strenges Vorgehen ist, dass einen wirklich besseren Ersatz für diese Regeln beschaffen könnte, indem es eben Wahrheit zu Tage fördert, ist es wohl die beste Beschäftigung, dieser Methode wirklich streng nachzugehen, denn da Gott jedem von uns ein Licht gegeben hat, Wahres und Falsches zu unterscheiden, so glaubte ich nicht, ich dürfe mich mit den Ansichten anderer nur einen Augenblick zufriedengeben ohne den Vorsatz, mein eigenes Urteil zu ihrer Prüfung zu benutzen, sobald die Zeit reif sein würde [Hervorhebung T. E.].

Und so werden diese vagen Werkzeuge, die wir jetzt herangezogen haben, sofern sie sich als falsch herausstellen sollten, verworfen und gegen bessere ersetzt werden müssen und diese neuen und besseren sollen für jede Person, die es versucht, klar nachvollziehbar sein, ohne, dass sie nur als zufällig entstandene oder ideologisch gefärbte Dogmen akzeptiert werden. Bis dahin ist es jedoch vielleicht ein weiter Weg und es hat aus guten Gründen immer wieder Einwände dagegen gegeben, dass eine derartige Letztbegründung überhaupt möglich ist.

Dennoch halte ich es für sinnvoll, Ausschau nach Optionen für eine Letztbegründung zu suchen und möchte hier verschiedene Möglichkeiten präsentieren und nach ihrer Gültigkeit untersuchen. Dabei wird selbstverständlich die Skepsis eine stete Begleiterin sein und immer wieder wird die Herausforderung durch Agrippas Trilemma und ähnliche Werkzeuge zu bewältigen sein, doch, und soviel möchte ich zunächst noch ganz ohne Beleg trocken versichern, ist die Skepsis immer nur ein Prüfstein für Theorien und kein unüberwindbares Hindernis.

Hiermit also ist meine Absicht erklärt: Ich möchte, natürlich im Wissen darüber, dass Arbeiten oft nicht die besten sind, versuchen, zumindest eine Perspektive auf diesen Problemkomplex zu geben, der mich so sehr interessiert und der auf eine Kombination der kantischen Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ hinausläuft.

Ich glaube tatsächlich nicht, dass diese beiden Bereiche steril nebeneinander liegen können, vielmehr steht auch jede Ethik vor dem Problem der Begründung ihrer elementarsten Annahmen und ich glaube darüber hinaus, dass die Frage danach, was gewusst werden kann (und wie!) ihre volle Brisanz erst mit den praktischen Implikationen dessen, was gewusst werden kann (oder eben nicht) erhält.

Kant mag zwar mit der Kritik der praktischen Vernunft das vielleicht beste (meta-)ethische Werk der Philosophiegeschichte geliefert haben (obwohl das selbstverständlich zu klären wäre), aber ich selbst wäre nicht fähig, anhand dieser großartigen Darstellung moralischer Pflicht die Notwendigkeit und Höhe einer bestimmten Steuer oder einer anderen Richtlinie zu deduzieren.

Ich könnte mir natürlich irgendeine halbgare Begründung mit dem Reich der Zwecke zusammenschustern, diese Begründung könnte sogar ganz wundervoll stringent sein und mithilfe des kategorischen Imperativs und einigen weiteren Annahmen über die Wirklichkeit schnell und einfach zu Entscheidungen führen. Das Problem ist nur, dass diese weiteren Annahmen in den meisten Diskussionen schon zur Uneinigkeit führen, bevor man überhaupt alle nötigen Prämissen formuliert hat. 

Dass man sich über die Gültigkeit des kategorischen Imperativs einig ist, bedeutet leider oft noch nicht, dass man sich einig ist, was getan werden sollte. Es wird also nicht leicht. Trotzdem kann der Versuch nicht schaden, solange man im Zweifelsfall noch auf provisorische Hilfestellungen zurückgreifen kann.

Thomas Engeland

Bibliographie:
Descartes, René: Discours de la Méthode: Von der Methode des richtigen Verstandesgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Felix Meiner, 1960.

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