Milan Kundera: Das Schwere und das Leichte  

Milan Kundera: Das Schwere und das Leichte  

MILAN KUNDERA, EMBLEMATISCHER SCHRIFTSTELLER DES 20. JAHRHUNDERTS IN EUROPA, IST AM 12. JULI IM ALTER VON 94 JAHREN GESTORBEN.

In dieser Woche ist Milan Kundera verstorben, zweifellos einer der emblematischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, insbesondere der zweiten Hälfte, einer Epoche, die von politischem Engagement und der Rivalität zwischen verschiedenen Ideologien, insbesondere Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus und Liberalismus, geprägt war. Aufgrund seiner tschechischen Herkunft und seines Geburtsjahres 1929 erlebte Kundera viele der sozialen Veränderungen und Ereignissen, die Europa seit dem Ende des Ersten Weltkriegs erschütterten, aus erster Hand, was sich in seiner Literatur in Form einer Struktur niedergeschlagen hat, die die Geschichten und die darin verwickelten Personen trägt, sie aber auch formt, beeinflusst und begrenzt.

Mit seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ wurde Milan Kundera weltbekannt. Generationen von Leserinnen und Lesern kennen die unglückliche Liebesgeschichte von Tomáš, Teresa und ihrem Hund Karenin, die zwangsläufig in der Katastrophe enden muss. In Milan Kunderas berühmtestem Buch, 1984 veröffentlicht und von Hollywood verfilmt, steckt all das, was die Romankunst des Schriftstellers ausmacht: Die Verknüpfung von großer Weltgeschichte mit dem kleinen persönlichen Schicksal und das Unterfüttern des Romanstoffs mit philosophischen Einsichten.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

(Aus Kapitel 1 des Buches)

Die Ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit ge­ bracht: alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, und auch diese Wiederholung wird sich unendlich wiederholen! Was besagt dieser widersinnige Mythos?

Der Mythos von der Ewigen Wiederkehr sagt uns in der Negation, dass das ein für allemal entschwindende und nie­ mals wiederkehrende Leben einem Schatten gleicht, dass es ohne Gewicht ist und tot von vornherein; wie grauenvoll, schön oder herrlich es auch immer gewesen sein mag – dieses Grauen, diese Schönheit, diese Herrlichkeit bedeuten nichts. Wir brauchen sie ebenso wenig zur Kenntnis zu nehmen wie einen Krieg zwischen zwei afrikanischen Staaten im vierzehn­ ten Jahrhundert, der am Zustand der Welt nichts verändert hat, auch wenn in diesem Krieg dreihunderttausend Schwarze unter unsagbaren Qualen umgekommen sind.

Wird es an diesem Krieg der beiden afrikanischen Staaten etwas ändern, wenn er sich in der Ewigen Wiederkehr unzäh­ lige Male wiederholt?

Gewiss: er wird zu einem Block, der emporragt und über­ dauert, und seine Dummheit wird nie wiedergutzumachen sein.

Wenn sich die Französische Revolution ewig wiederholen müsste, wäre die französische Geschichtsschreibung nicht so stolz auf Robespierre. Da sie aber von einem Ereignis spricht, das nicht wiederkehren wird, haben sich die blutigen Jahre in Worte verwandelt, in Theorien und Diskussionen; sie sind leichter geworden als Federn und flößen niemandem mehr Angst ein. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Robespierre, der in der Geschichte nur ein einziges Mal aufgetreten ist, und einem Robespierre, der ewig wiederkehrt, um den Franzosen den Kopf abzuhacken.

Sagen wir also, dass der Gedanke der Ewigen Wiederkehr eine Perspektive bezeichnet, aus der die Dinge uns anders er­ scheinen, als wir sie kennen: sie erscheinen ohne den mildern­ den Umstand ihrer Vergänglichkeit. Dieser mildernde Um­ stand hindert uns nämlich daran, ein Urteil zu fällen. Wie kann man etwas verurteilen, das vergänglich ist? Im Abendrot leuchtet alles im verführerischen Licht der Nostalgie, sogar die Guillotine.

Vor kurzem habe ich mich bei einem unglaublichen Gefühl ertappt: ich blätterte in einem Buch über Hitler und war von manchen Fotografien ergriffen: sie erinnerten mich an die Zeit meiner Kindheit. Ich bin während des Krieges aufgewachsen; einige meiner Verwandten sind in Hitlers Konzentrations­ lagern umgekommen; was aber bedeutet ihr Tod angesichts dieser Fotografien von Hitler, die in mir die Erinnerung an eine vergangene Zeit meines Lebens wachgerufen haben, an eine Zeit, die nicht wiederkehren wird?

Diese Aussöhnung mit Hitler verrät die tiefliegende mora­ lische Perversion einer Welt, die wesentlich auf dem Nichtvor­ handensein der Wiederkehr begründet ist, weil in einer solchen Welt alles von vornherein verziehen ist und folglich auch alles auf zynische Weise erlaubt.

2. Wenn sich jede Sekunde unseres Lebens unendliche Male wie­ derholt, sind wir an die Ewigkeit genagelt wie Jesus Christus ans Kreuz. Eine schreckliche Vorstellung. In der Welt der Ewigen Wiederkehr lastet auf jeder Geste die Schwere einer unerträglichen Verantwortung. Aus diesem Grund hat Nietz­ sche den Gedanken der Ewigen Wiederkehr »das schwerste Gewicht« genannt.

Wenn die Ewige Wiederkehr das schwerste Gewicht ist, kann unser Leben vor diesem Hintergrund in seiner ganzen herrlichen Leichtheit erscheinen.

Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?

Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, presst uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist un­ ser Leben der Erde, desto wirklicher und wahrer ist es.

Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, dass der Mensch leichter wird als Luft, dass er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein ent­ fernt, dass er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewe­ gungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.

Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte?

Parmenides hat sich diese Frage im sechsten Jahrhundert vor Christus gestellt. Er sah die ganze Welt in Gegensatzpaare aufgeteilt: Licht–Dunkel; Feinheit–Grobheit; Wärme–Kälte; Sein–Nichtsein. Er betrachtete den einen Pol (Licht, Feinheit, Wärme, Sein) als positiv, den anderen als negativ. Eine solche Aufteilung sieht kinderleicht aus, bringt jedoch eine Schwie­ rigkeit mit sich: was ist positiv, das Schwere oder das Leichte?

Parmenides antwortete: das Leichte ist positiv, das Schwere ist negativ.

Hatte er recht oder nicht? Das ist die Frage. Sicher ist nur eines: der Gegensatz von leicht und schwer ist der geheimnis­ vollste und vieldeutigste aller Gegensätze.


Mit Text aus Deutschlandfunk Kultur: „Zum Tod von Milan Kundera. Romane mit ironischem Lächeln“ von Martin Peter Becker · 12.07.2023

Kundera, Milan: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins„, Kapitel 1.

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