Schopenhauer und die Kunst: Erkenntnis und Befreiung

for thou hast been
As one, in suffering all, that suffers nothing;
A man, that fortune’s buffets and rewards
Hast ta’en with equal thanks, etc.

In seinem Meisterwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ stellt Arthur Schopenhauer die Kunst als Erleichterung vom Leiden dar. Der Philosoph warnt, dass wir niemals glücklich werden können, wenn unser Bewusstsein vom unendlichen Fluss des Willens besetzt ist. Dieser Fluss des Willens kann jedoch durch die Kunst kurzzeitig unterbrochen werden.

Wie Friedrich Schelling, der die Kunst als höchste menschliche Bestimmung ansah, reflektiert Schopenhauer den kantischen Idealismus. Nach Kants Behauptung, dass die Welt meine Vorstellung ist, geschieht und existiert alles, was wir wissen, nur in unserem Bewusstsein, da es unmöglich ist, die Dinge so zu kennen, wie sie an sich sind.
Im Gegensatz zu Kant liegt für Schopenhauer die Wirklichkeit jedoch nicht in der Idee, sondern in dem, was wir Wille nennen. Durch den Willen, verstanden als Ursprung der Erscheinungswelt, als letztes und ursprüngliches Prinzip des Seins und als Quelle allen Lebens, können wir zum Ding an sich gelangen.

Die Ideen sind für Schopenhauer die ersten und unmittelbaren Objektivierungen des Willens. Die Ideen stehen außerhalb von Raum und Zeit und des Prinzips der Kausalität in all seinen Formen, sie sind ewig und unveränderlich.

Einzelne Objekte – Dinge und Wesen, die in Raum und Zeit existieren – stellen aufgrund ihrer Vielfältigkeit und Veränderlichkeit keine angemessene und vollständige Objektivation des Willens dar. Angemessene und vollständige Objektivation ist nur die Idee. Und die Idee ist nicht das Objekt der Erkenntnis, sondern nur der Kunst.

Deshalb begründet die Kunst eine privilegierte Form der Erkenntnis, eine metaphysische Erkenntnis, die mit der interesselosen Betrachtung der Ideen (im platonischen Sinne) zu tun hat, d.h. mit dem, was unveränderlich und unvergänglich wahr ist.

Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren läßt, aufhört, nur ihren Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die Relation zum eigenen Willen ist, am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom Grunde, nachzugehn, also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen betrachtet; sondern einzig und allein das Was; auch nicht das abstrakte Denken, die Begriffe der Vernunft, das Bewußtsein einnehmen läßt; sondern, statt alles diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingiebt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewußtsein ausfüllen läßt durch die ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer; indem man, nach einer sinnvollen Deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d.h. eben sein Individuum, seinen Willen, vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt; so, daß es ist, als ob der Gegenstand allein da wäre, ohne jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern Beide Eines geworden sind, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist; wenn also solchermaaßen das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektität des Willens auf dieser Stufe: und eben dadurch ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum: denn das Individuum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern er ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß.  

(WWV III, §34)

Radikaler Pessimismus

Schopenhauers Pessimismus geht davon aus, dass wir empfindungsfähige Wesen sind, die gezwungen sind, sich zu bemühen und viel zu leiden, ohne dass es einen letzten Zweck oder eine Rechtfertigung gibt. Wie Calderon es ausdrückt:

Pues el delito mayor

Del hombre es haber nacido.

(Da die größte Schuld des Menschen ist, dass er geboren wurde.)

(WWV III, §51)

Im Leben haben wir ständig das Gefühl, dass uns etwas fehlt, und wir sind immer, auf die eine oder andere Weise, bedürftig nach etwas. So leiden wir unter unserer Wahrnehmung des Mangels, der sich als Schmerz manifestiert. Natürlich versuchen wir, diesem Schmerz ein Ende zu setzen, indem wir durch „Streben und Bemühen“ nach dem suchen, was uns fehlt.
Nun kann unser Bemühen erfolgreich sein und wir bekommen, was uns fehlt, aber sofort tauchen andere unvollständige Wünsche auf. Oder wir scheitern in unserem Bemühen, wodurch sich unser Leiden verdoppelt, da uns nicht nur etwas fehlt, sondern wir uns auch mit unserem Versagen auseinandersetzen müssen.
Aber das ist noch nicht alles: Die Befriedigung, die wir durch das Entkommen aus dem Leiden erhalten, ist nur vorübergehend, denn sobald das Verlangen befriedigt ist, tauchen schnell andere Wünsche auf oder wir langweilen uns, wodurch ein neues Gefühl des Mangels zurückkehrt. Dies führt nur zu mehr Anstrengung und damit zu mehr Leiden.

Diesem Kreislauf des Schmerzes ist das Verlangen inhärent: das Verlangen, etwas zu erreichen und Erleichterung zu erfahren. Unser Verlangen ist grenzenlos und anspruchsvoll, und jedes befriedigte Verlangen führt zu einem neuen (noch anspruchsvolleren) Verlangen. Das Leben ist also ein Kreislauf des ständigen Schmerzes, in dem selbst der Zustand der momentanen Befriedigung (oder des Glücks) nur ein vorübergehendes Aufhören des Verlangens ist. Dieses Glück ist also negativ, denn es entspricht der vorübergehenden Abwesenheit von Verlangen.

Für unseren Philosophen ist also unser natürlicher Zustand und der von allem, was existiert, die Versklavung des Willens, und als Sklaven des Willens handeln wir in seinem Dienst, indem wir immer danach streben, unsere Begierden zu befriedigen, indem wir mehr und mehr wollen. Schopenhauers Pessimismus ist radikal. Der Boden des Wirklichen ist der unbefriedigte Wille. Die Struktur des gesamten Lebens und insbesondere des Menschen ist im Wesentlichen Schmerz.

Für Schopenhauer gibt es jedoch einen Weg, diesen Kreislauf des Schmerzes zu bekämpfen, und zwar durch die Kunst. Die Kunst, die eine kontemplative und nicht-appetitive Haltung ist, beruhigt das Verlangen und das Bedürfnis, immer mehr zu wollen.

Es ist die Kunst, das Werk des Genius. Sie wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt, und je nachdem der Stoff ist, in welchem sie wiederholt, ist sie bildende Kunst, Poesie oder Musik. Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntniß der Ideen; ihr einziges Ziel Mittheilung dieser Erkenntniß.

Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt, ist, wie gesägt, einer in jedem Sinn völlig uninteressirten Betrachtung, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, wenigstens durchaus nicht anhaltend fähig: er kann seine Aufmerksamkeit auf die Dinge nur insofern richten, als sie irgend eine, wenn auch nur sehr mittelbare Beziehung auf seinen Willen haben. Da in dieser Hinsicht, welche immer nur die Erkenntniß der Relationen erfordert, der abstrakte Begriff des Dinges hinlänglich und meistens selbst tauglicher ist; so weilt der gewöhnliche Mensch nicht lange bei der bloßen Anschauung, heftet daher seinen Blick nicht lange auf einen Gegenstand; sondern sucht bei Allem, was sich ihm darbietet, nur schnell den Begriff, unter den es zu bringen ist, wie der Träge den Stuhl sucht, und dann Interessirt es ihn nicht weiter. Daher wird er so schnell mit Allem fertig, mit Kunstwerken, schönen Naturgegenständen und dem eigentlich überall bedeutsamen Anblick des Lebens in allen seinen Scenen… Der Geniale dagegen, dessen Erkenntnißkraft, durch ihr Uebergewicht, sich dem Dienste seines Willens, auf einen Theil seiner Zeit, entzieht, verweilt bei der Betrachtung des Lebens selbst, strebt die Idee jedes Dinges zu erfassen, nicht dessen Relationen zu andern Dingen…

(WWV III, §36)
L’Estasi della beata Ludovica Albertoni – Lorenzo Bernini
(Bild: historia-arte.com)

Kunst als Befreiung

Die ästhetische Erfahrung ermöglicht eine momentane Befreiung von Irrationalität und Blindheit, von Schmerz, Langeweile, Müdigkeit und Unzufriedenheit im Leben. Die Kunst lenkt die Aufmerksamkeit von den Motiven des Wollens ab, von unserem Spiel des Erreichens und der Erleichterung: Wenn wir Kunst betrachten, haben wir die Fähigkeit, uns vom Willen zu lösen, wir werden für einen Moment vom Lebenswillen, d.h. vom Begehren und von der Anstrengung suspendiert. Wir verlieren uns im Kunstwerk und vergessen, dass wir Individuen sind, die vom Willen beherrscht werden: Wir werden eins mit dem Kunstwerk.

Jede Kunst ist befreiend, weil sie Vergnügen bereitet, indem sie es uns ermöglicht, uns vom Schmerz des Bedürfnisses zu lösen, indem wir einen Zustand interesseloser Kontemplation erreichen. Aber diese Befreiung ist nur vorübergehend.

Nach der Philosophie Schopenhauers sind diese fünf Formen der Kunst zur Linderung des Leidens: Architektur, Poesie, Malerei, Baukunst und Musik. Die Kunst, mit Ausnahme der Musik, ist also die Kenntnis der platonischen Ideen und die intuitive Wiedergabe dieser Kenntnis.

Die bildenden Künste bringen die Ideen durch Kontemplation zu einer intuitiven Erkenntnis, die den Willen besänftigt. Es geht um das Was der Dinge, nicht um das Warum: Der kontemplativen Mensch verliert sich in der Intuition. Man könnte sagen, dass er sich selbst und die Welt vergisst. Es ist, als ob sich alles Leiden, alles Wollen und alles Wünschen verflüchtigt hätte.

Die poetischen Künste versuchen, mit sprachlichen Mitteln zur Intuition der Ideen zu führen. Der Dichter setzt die Vorstellungskraft in Bewegung, indem er sie imaginativ, d.h. mit Hilfe von Metaphern, dazu anregt, Ideen in ihr präsent zu machen. Dichter zeigen in Beispielen, was das Leben, was die Welt ist.

Der Höhepunkt der Poesie ist die Tragödie. Sie hat den Zweck, uns das Schreckliche des Lebens, den namenlosen Schmerz, die Klagen der Menschheit vor Augen zu führen. Die Tragödie offenbart das innerste metaphysische Wesen der Welt durch den Triumph des Bösen, durch die verzweifelte Lage der gerechten oder unschuldigen Menschen, wobei die Welt von Zwietracht und Unfrieden beherrscht wird. Darüber hinaus manifestiert die Tragödie intuitiv die metaphysische Erkenntnis, dass das Selbst des Individuums, oder was Schopenhauer auch das Prinzip der Individuation nennt, nur eine Illusion ist.

Schließlich nimmt die Musik für Schopenhauer die höchste Stellung unter allen Künsten ein. Sie ist nicht die Kopie einer Idee, das heißt, sie ist keine vermittelte Darstellung des metaphysischen Willens. Die Musik hat etwas Metaphysisches an sich. Sie ist in gewissem Sinne eine Metaphysik in Tönen. Deshalb wendet sich die Musik im Gegensatz zu den anderen Künsten nicht an die objektive Welt; ihr Gegenstand ist nicht die Vorstellung, sondern verweist unmittelbar auf den „nicht-objektiven Willen„. Sie spricht nicht von Dingen, sondern von Affekten und Gefühlen, von Glück und Schmerz. Wenn die anderen Künste nur von Schatten sprechen, spricht die Musik dagegen vom Wesen. Für unseren Philosophen steht die Musik an der Spitze der Leiter, weil sie den Willen verkörpert, der dem Leben selbst zugrunde liegt: Sie enthüllt die geheimen Leidenschaften der Willensbewegungen.

Bild: opera-inside.com

Bibliographie:

  • Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Zürich 1977.

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