Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes

Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes
Was ἀλήθεια [alétheia] sagt, ist so einfach wie geradlinig: Wahrheit, wie es hier gesagt wurde, ist genau diese Situation, in der die Bewegung des Entkommens unterbrochen wird. Die griechische Erfahrung der Wahrheit ist ganz und gar von dem geradezu tragischen Gefühl bestimmt, in dem sich der Mensch befindet, der sich der Evidenz hingeben muss, dass alles, was er weiß oder zu wissen glaubt, schwankend ist

Martin Heidegger veröffentlichte im Jahr 1927 Sein und Zeit und erregte damit großes Aufsehen unter seinen Zeitgenossen. In der Zwischenkriegszeit, desillusioniert vom Fortschritt, den die Philosophie der Moderne versprach, taucht ein Freiburger Professor – ebenfalls ein Schüler Husserls – auf, der von der Unauthentizität von „das Man“ und von der Authentizität des Daseins selbst spricht, wenn es sich seiner eigenen Endlichkeit und des unangreifbaren Charakters seines Todes bewusst ist. Heidegger erschüttert die akademischen Klöster, konfrontiert die traditionelle Metaphysik und fragt erneut nach dem Sinn des Seins. Dieses wird nun nicht von der Unendlichkeit her zu verstehen sein, sondern von derjenigen Entität, die dem Sein eröffnet ist: dem Dasein, also von der Endlichkeit her. Sein und Zeit brachte Heidegger in die akademische Welt der späten zwanziger Jahre und seine Philosophie wurde zu dieser Zeit viel diskutiert. 

Doch 1935 hält Heidegger, für viele überraschend, in Freiburg einen Vortrag über den Ursprung des Kunstwerks. Am 17. und 24. November sowie am 4. Dezember 1936 hält er in Frankfurt drei Vorträge, die später unter dem Titel „Der Ursprung des Kunstwerks“ zusammengefasst und 1950 in Holzwege als Aufsatz veröffentlicht werden. 

Nun kann man sich fragen: Warum bietet Heidegger plötzlich einen Vortrag zur Kunst an? Warum erscheint die Kunst für diese Jahre als entscheidende Frage? Wir finden nur kurze Erwähnungen zu dieser Thematik in seinen Werken vor der Abhandlung über die Kunst. 

Heidegger selbst deutet implizit ein „Hin und Her“ zwischen beiden Momenten seines Denkens zur Analyse von Der Ursprung des Kunstwerkes im Anhang (1956) dieses Werkes an: „Der ganze Aufsatz über ‚Der Ursprung des Kunstwerkes‘ bewegt sich, wissentlich, aber stillschweigend, auf dem Weg der Frage nach dem Wesen des Seins. Die Reflexion darüber, was Kunst sein kann, wird allein und entscheidend von der Frage des Seins bestimmt. Kunst wird weder als Sphäre der Verwirklichung von Kultur noch als Manifestation des Geistes verstanden: sie hat ihren Platz im Ereignis, dem Ersten, von dem aus der ‚Sinn des Seins‘ bestimmt wird“. 

Kurz gesagt, die Frage nach dem Wesen des Kunstwerkes ist nicht die Frage nach dem Werk als Museumsobjekt oder als ein von der Ästhetik theoretisiertes Objekt, sondern nach seiner Rolle bei der Konstitution von Bedeutung. Die ästhetische Frage nach der Kunst beschränkt sich für Heidegger auf die Betrachtung der gefühlsmäßigen Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt, wobei das Kunstwerk ein Objekt ist, das für einen gefühlsmäßigen Zustand schön ist. Heidegger fragt sich als Phänomenologe nach dem Ursprung der Manifestation der Dinge, der Manifestierung dessen, was sich uns darbietet: Wovon zeigt sich mir das Sein als Sein? Die Frage nach dem Sein ist die Frage nach den Bedingungen seiner Manifestation. Das Seiende ist auf viele Arten gegeben und eine davon ist das Kunstwerk. Deshalb kann die Frage nach der Kunst nur von der Frage nach dem Sein her verstanden werden. Die Frage nach dem Werk hat kein ästhetisches, sondern ein ontologisches Anliegen: Die Frage nach dem Sein ist es dann, die „Der Ursprung des Kunstwerkes“ in den Gedankengang Heideggers einrahmt und uns den Sinn dieses zunächst überraschenden Werkes verstehen lässt. 

Normalerweise verwenden wir das Wort Ursprung und verstehen es als das, woher etwas kommt – ohne uns darüber hinaus nach der Modalität dieses Ursprungs zu fragen. So entgeht uns das Geheimnis des Ursprungs, nämlich dass er nicht gebären kann, wenn er nicht selbst verschwindet. Mit anderen Worten: Es gibt keinen „Ursprung“, wenn er nicht zugunsten des Entstandenen ist, ohne eine Abweichung, die fortan das Entstandene vom Ursprung trennt. 

Der Ursprung des Kunstwerkes, sagt Heidegger, ist die Wahrheit. Wir werden nicht in der Lage sein, voranzukommen, solange wir eine vage und konventionelle Vorstellung von Wahrheit haben. Letzteres ist nichts anderes als die traditionelle Bedeutung von Wahrheit als Übereinstimmung (adaequatio), genauer: Übereinstimmung dessen, was wir sagen – oder, allgemeiner, unserer Darstellung – zu dem, was es wirklich ist.

Es ist nicht diese Wahrheit, von der Heidegger spricht. Er lädt uns ein, auf den griechischen Namen für Wahrheit zu hören und zu verstehen, was dieser Name aussagt. Ἀλήθεια [Alétheia] spricht direkt zu jedem Ohr, das ein Rudiment des Griechischen kennt, und lässt ihn das Privativ-Alpha und das Subjekt bemerken, das sich von dem Verb λανθάνω [lantháno] ableitet: entkommen.

Was ἀλήθεια [alétheia] sagt, ist so einfach wie geradlinig: Wahrheit, wie es hier gesagt wurde, ist genau diese Situation, in der die Bewegung des Entkommens unterbrochen wird. Die griechische Erfahrung der Wahrheit ist ganz und gar von dem geradezu tragischen Gefühl bestimmt, in dem sich der Mensch befindet, der sich der Evidenz hingeben muss, dass alles, was er weiß oder zu wissen glaubt, schwankend ist, immer im Begriff ist, ihm zu entkommen, für den diese Flucht aber von Zeit zu Zeit unterbrochen wird, und der in der Spanne eines Blitzes mit dem konfrontiert wird, was ist. Dort, im Gedächtnis des Blitzes, liegt der Ursprung des Kunstwerkes. 

Das Heideggersche Denken zeigt vielfältige Wege auf, und vielfältig sind die Interpretationen dieser Wege. Wir kommen zu dem Schluss, dass es in der philosophischen Reiseroute des deutschen Denkers eine grundlegende Kontinuität gibt: die Frage nach dem Sein. Nur unter Berücksichtigung dieses Interpretationsschlüssels macht die Abhandlung über Kunst Sinn. 

Quelle: L’art en liberté, Pocket, París, 2006; pp. 295-309

Bild 1: Digne Meller Marcovicz / bpk  

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