„Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre“ (Friedrich Nietzsche: Briefe, 2, 332; 27. Oktober 1868) |
Im Jahr 1849 floh Richard Wagner aus politischen Gründen von Dresden nach Zürich. Es war Otto Wesendonck, ein reicher Seidenhändler, der ihn aufnahm und finanzierte. Zu dieser Zeit arbeitete Wagner an seinem Opus magnum „Der Ring des Nibelungen“. Vielleicht auf der Suche nach einer Pause von der Komplexität des Projekts, an dem er beteiligt war, oder weil er eine Affäre mit der Frau seines Gönners begonnen hatte, fühlte er sich von der mittelalterlichen Legende von Tristan und Isolde – der unmöglichen und unbändigen Liebe – angezogen und begann mit der Komposition eines Musikdramas in drei Akten mit diesem Titel.
Der Anfang dieses Musikdramas enthielt eine Überraschung. Das Präludium (Prelude) zu den drei Akten, der musikalische Teil, in dem der Komponist die Themen, die er im Folgenden entwickeln wird, zusammenfassend darstellt, beginnt mit einem singulären Akkord, bestehend aus vier Noten (F, H, Dis und Gis), von denen zwei durch zwei Intervalle der übermäßigen Quarte und die anderen beiden durch eine große Terz getrennt sind. Dies ist ein perfekt dissonanter Akkord, der durch eine chromatische Bewegung erreicht und verlassen wird. Dies ist, was später als der Tristan-Akkord bekannt wurde.
Aber dieser Akkord ist nicht nur dissonant, er ist auch atonal; oder besser gesagt, sein tonaler Sinn ist diffus und daher unbestimmt. Wagner verstößt bei der Komposition dieses Werkes gegen alle gängigen Regeln der Harmonielehre; er reitet unbekümmert auf dem Dogma herum. Mehr noch, er stellt den Diabulus in Musica gleich an den Anfang seiner Komposition.
Diabulus in Musica war der Name, den man im Mittelalter, gerade zu Beginn der polyphonen Harmonie, dem Tritonus oder Intervall der übermäßigen Quarte (das, was entsteht, wenn zwischen zwei Tönen drei gerechte Töne liegen) gab, weil es als die Dissonanz unter den Dissonanzen angesehen wurde. Wagner verwendet ihn zweimal und erzeugt damit ein Gefühl der Spannung, das vollendet werden muss. Diese Sensation, die nicht nur im Intervallischen besteht, beruht auf der tonalen Unbestimmtheit, auf der Aufhebung dessen, was bisher die transzendenteste musikalische Funktion war: die Hierarchie der Tonika, auf die alles zulief und von der alles aufgebaut wurde.
Von der Geburt der Polyphonie (12. Jahrhundert) bis zum Symphonismus des 19. Jahrhunderts hatte der Westen die raffiniertesten musikalischen Formen in der Geschichte der Menschheit entwickelt. Diese basierten auf dem so genannten Tonsystem, das auf der Hierarchie der Tonika und auf den Beziehungen beruht, die die übrigen Töne mit ihr manifestieren und die sich aus der Abfolge der Obertöne ergeben, aus denen jeder Ton besteht. Die Tonika grenzt die Konsonanzen und die daraus resultierenden Funktionen ab. Es wäre etwas Ähnliches wie ein monarchischer Staat oder das kopernikanische Sonnensystem mit den um die Sonne kreisenden Planeten. Was Wagner tut, ist zu bekräftigen, dass ein anderes System von Beziehungen möglich ist, und er tut es auf eine brillante, schöne und meisterhafte Weise, so dass es unmöglich ist, mit ihm zu streiten.
Viele denken, dass der deutsche Komponist lediglich ein Problem des musikalischen Ausdrucks lösen wollte. Das unbändige Verlangen der Liebenden und die Unmöglichkeit seiner Erfüllung in Klang zu fassen. Der Kunstgriff, den er verwendet, ist die Spannung der Dissonanz und die Unbestimmtheit des tonalen Nebels, alles im chromatischen Fluss. Es ist ein Konflikt, der nie gelöst wird, ein Wunsch nach Vollendung, der aufgeschoben wird, weil das Tonikum geisterhaft ist, fast eine Fata Morgana. Was auch immer die Absicht des Komponisten war, das Ergebnis war, einen Riss im Tonsystem zu öffnen, den meisterhaftesten Akkord entstehen zu lassen, der je komponiert wurde… Eine neue Welt in der Klangkunst war im Entstehen.
Warum hat das gleichzeitige Aussenden dieser vier Töne so viel Verwirrung und Staub aufgewirbelt? Warum ist es ein so entscheidendes Genie, einen Akkord komponiert zu haben, in den genau diese Töne eingreifen? Wo liegen sein Zauber und sein Geheimnis? „Tristan und Isolde“ ist als ein riesiges Geflecht von thematischen Motiven konstruiert (Begehren, der Tag, der Blick, der Tod usw.). Stellen wir uns nun die Partitur als eine Erzählung innerhalb eines Klangteppichs vor: Um sie in der Tiefe zu genießen, hilft es, wenn man zumindest einige dieser Leitmotive oder treibenden Motive identifizieren kann, die die Partitur in eine Art gigantisches Garn verwandeln, in dem sich die „melodischen Fäden“ und die Handlung verflechten.
Wir haben bereits den Akkord von Tristan gehört, der der Akkord des Begehrens ist. Als nächstes hören wir das Gegenmotiv: den Tag (d.h. Lügen, Betrug, Politik, Unterdrückung). Es ist ein vernarrtes und letztlich bedrohliches Motiv, ebenso wie die Arroganz der Wahrheit:
Im Gegensatz dazu steht das schöne Motiv des „Ein-Blicks“ (das uns in eine Vergangenheit außerhalb der Bühne zurückführt, in eine ursprüngliche und als solche nicht darstellbare Szene, als Isolde, die Heilerin, von Tristans Blick getroffen wurde, während er im Sterben lag und eine leichte Beute hätte sein können, um in ihrem fast leblosen Körper den Mord an ihrem Verlobten Morold zu rächen):
Schließlich hören wir das Leinmotiv des Todes der Liebe, wie es von Tristan im zweiten Akt eingeführt wird:
Wagner und Schopenhauer: Tristan und Isolde als Werk der Philosophie
Im dritten Buch in Die Welt als Wille und Vorstellung stellt Schopenhauer eine detaillierte Hierarchie der Künste nach dem Grad der Objektivierung des Willens in ihnen auf, von der Architektur bis zur Tragödie. Die Musik ist jedoch von dieser Hierarchie ausgeschlossen, und das liegt, wie der Autor selbst sagt, daran, „da im systematischen Zusammenhang unserer Darstellung gar keine Stelle für sie passend war“.
Schopenhauer wird die Musik von den übrigen Künsten abgezalt und hat eine eigene Charakterisierung:
Sie steht ganz abgesondert von allen andern. Wir erkennen in ihr nicht die Nachbildung, Wiederholung irgend einer Idee der Wesen in der Welt: dennoch ist sie eine so große und überaus herrliche Kunst, wirkt so mächtig auf das innerste des Menschen, wird dort so ganz und so tief von ihm verstanden, als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft. (Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 378)
Schopenhauer ist der Ansicht, dass sich die Musik als Kunst von den anderen Künsten – die eine Objektivierung des Willens sind – unterscheidet, weil die Musik in gewissem Sinne der Wille selbst ist: in ihr liegt eine ernste und tiefe Bedeutung, die sich auf das Wesen der Welt und des Menschen bezieht, und obwohl die Wirkung der Musik derjenigen der anderen Künste sehr ähnlich ist, ist ihre Wirkung intensiver und vertrauter, notwendiger und unfehlbarer. Jeder Mensch kann seine innige Beziehung zur Welt sofort verstehen; es genügt das unmittelbare Begreifen, das man von ihm hat, wenn man ihn anhört.
In der Musik, und nach dieser Analogie, stellt die Melodie nach einer ununterbrochenen Linie die Leidenschaften des Menschen, jede Sehnsucht, jede Bewegung, kurz, jede Bewegung des Willens dar, eben deshalb, sagt und bestätigt Schopenhauer, ist die Musik von jeher als die Sprache der Gefühle und Leidenschaften erkannt worden, wie die Worte die Sprache der Vernunft sind. Die Aufgabe des Genies, des Komponisten, des Musikers, wird es sein, die unzähligen Formen der menschlichen Wünsche herauszufinden:
Die Erfindung der Melodie, die Aufdeckung aller tiefsten Geheimnisse des menschlichen Wollens und Empfindens in ihr, ist das Werk des Genius, dessen Wirken hier augenscheinlicher, als irgendwo, fern von aller Reflexion und bewusster Absichtlichkeit liegt und eine Inspiration heißen könnte. Der Begriff ist hier, wie überall in der Kunst, unfruchtbar; der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht; wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse gibt über Dinge, von denen sie wachend keinen Begriff hat. Daher ist in einem Komponisten, mehr als in irgend einem andern Künstler, der Mensch vom Künstler ganz getrennt und unterschieden. (Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 384)
Schopenhauers Argumentation folgend, könnten wir uns fragen, ob es einen solchen Komponisten gibt, wenn man seine wesentlichen Eigenschaften berücksichtigt. Es sei mir also erlaubt, eine persönliche Exemplifizierung gemäß der Argumentation unseres Philosophen vorzunehmen: Wir können Schopenhauers Ästhetik und musikalische Metaphysik zweifellos in den Kompositionen Richard Wagners, speziell als Zusammenfassung in Tristan und Isolde, wiederfinden. Thomas Mann beschreibt für uns eindringlich die Bedeutung von Schopenhauers Philosophie in Wagners Werk:
Niemals wahrscheinlich in aller Seelengeschichte hat die Bedürftigkeit des dunklen, des getriebenen Menschen, des Künstlers nach geistiger Stütze, nach Rechtfertigung und Belehrung durch den Gedanken eine so wundervolle Befriedigung erfahren, wie es diejenige war, die Wagner durch Schopenhauer zuteil wurde”. („Leiden und Größe der Meister“, S. 248).
Die Bekanntschaft mit Arthur Schopenhauers Philosophie ist, wie Mann sagt, das große Ereignis in Wagners Leben; keine frühere geistige Begegnung kommt ihr an persönlicher und historischer Bedeutung gleich: denn sie bedeutete den höchsten Trost, die tiefste Selbstverwirklichung, die geistige Erlösung für den, dem sie in so vollkommenem Sinne „kam“, und sie war ohne Zweifel das erste, was seiner Musik den Mut gab, sich zu lösen.
Wenn die Musik den Willen selbst, das ursprüngliche und reine Wesen des Willens, zum Ausdruck bringt, kann sie nicht die individualisierten und konkretisierten Seelenbewegungen der Welt der Erscheinungen ausdrucken, sondern muss dies auf eine allgemeine, abstrakte und unbestimmte Weise tun, indem sie jeden Augenblick die Freude selbst, den Kummer selbst, den Schmerz selbst, alle Bewegungen auf eine essentielle und ewige Weise, auf eine allgemeine Weise und niemals auf eine personalisierte, individualisierte, besondere und konkrete Weise manifestiert.
Die Aufgabe des Künstlers ist völlig distanziert von aller Reflexion, von allem abstrakten Wissen, von der Erkenntnis des Künstlers. Das primäre Ziel des Komponisten sind die Bewegungen des Willens, die Essenz des menschlichen Handelns. Hier also glaube ich, dass wir in Wagner die schopenhauersche Ästhetik materialisiert sehen, da wir mit seiner Musik, wenn wir zum Beispiel „Liebestod“ hören, eine Erhebung erleben können, die schwer in Worten oder durch Sprache zu erklären ist, weil die Musik das wahre Wesen der Welt ausdruckt, sie drückt den Willen selbst aus.
Bild Porträit: Rogelio de Egusquiza – Tristan and Isolt (Death) in Wikimedia Commons