Arthur Schopenhauer: Individuationsprinzip und Kunst

Arthur Schopenhauer: Individuationsprinzip und Kunst

Wenn Schopenhauer darüber nachdenkt, wie dem Leiden ein Ende bereitet werden kann, wird er seine Ästhetik und Moralphilosophie in erster Linie auf die Überwindung dieser Individualität ausrichten.
Es geht darum, denken zu können, als ob diese unermessliche Natur der Ort wäre, an dem wir uns alle als eins erkennen. Solche Erstaunen und Bewunderung vom ästhetischen Standpunkt aus zu betrachten, bedeutet, das Erhabene zu erfahren.

In früheren Artikeln habe ich über Jorge Luis Borges und Richard Wagner geschrieben, und in beiden Beiträgen gibt es eine monumentale Philosophie, die das Genie des argentinischen Schriftstellers und des großen deutschen Komponisten zum Leben erweckt: die Philosophie von Arthur Schopenhauer. Um die Poesie und die philosophischen Fragen von Borges‘ Literatur oder das faszinierende Musik- und Gesamtkunstwerk von Wagner (eine unübertroffene Schöpfung) besser zu verstehen, ist eine Einführung in Schopenhauers Philosophie unerlässlich.

Wenn Schopenhauers Name erwähnt wird, denkt man automatisch an „Pessimismus“. Doch weit davon entfernt, den wahren Begriff des Pessimismus zu verstehen, wird von Schopenhauer oft gesagt, er sei ein verbitterter, menschen- und weltverachtender Mann gewesen, ein Frauenfeind und Verbreiter einer blinden Unzufriedenheit mit allem. Deshalb ist es auch irreführend und böswillig, Schopenhauer aus Fragmenten darzustellen, die aus dem Kontext seines Werkes herausgerissen wurden (etwas sehr Typisches für die heutige Verbreitung der Philosophie in sozialen Netzwerken), und ihn so durch ein barbarisches und verfälschendes Bild darzustellen. So wie Nietzsche so bekannt ist für sein „Gott ist tot“ und so viele Phrasen, die denjenigen, die sich für Philosophie interessieren und die Philosophie noch immer nicht lesen, als Bestseller dienen, so ist Schopenhauer seinerseits mit einem leeren Pessimismus, einer Neigung zum Schmerz verbunden.

Schopenhauer ist ein Denker der Gegenströmung, der gegen alle Naivität und leichten Optimismus dachte und deshalb ein lästiger, unbequemer Philosoph ist. Darin liegt sein Genie.

Schopenhauer klagt nicht über Schmerzen, sondern was sein Denken richtig antreibt und leitet, ist seine überbordende Solidarität mit allem, was lebt. Die Bedeutung des Pessimismus bei Schopenhauer ist keineswegs nur eine bloße und schmeichelhafte Negativität. Sie ist das Produkt von Schopenhauers Umsturz seines eigenen philosophischen Sinns. Die Aufgabe der Philosophie ist eine Art Verurteilung der ständigen Sinnsuche. Das Rätsel der Welt zu denken, ist für Schopenhauer innerhalb gewisser Grenzen möglich, die untrennbar mit unserer endlichen Natur verbunden sind.

Das Markenzeichen der Philosophie ist Bewunderung: eine Bewunderung, bei der wir unsere Grenzen erkennen und die Welt und ihre Rätsel auf dem Weg von der Erfahrung zur Idee beobachten. Die Welt und unsere eigene Existenz erscheinen notwendigerweise als Rätsel, gerade weil das innere und ursprüngliche Wesen der Welt nicht rational ist; wie auch immer die Welt ist, für unsere Vernunft ist sie jedenfalls nicht absolut transparent. Die Herausforderung besteht darin, die Endlichkeit der Vernunft zu akzeptieren und die Unmöglichkeit in Betracht zu ziehen, endgültige Lösungen für Probleme anzubieten, denn Philosophie ist kein Dogma.

Die unermessliche Größe der Natur objektiv aus der Perspektive unserer physischen Existenz und unseres bloßen Überlebensinstinkts zu betrachten, bedeutet, diese unverhältnismäßige Größe und Macht zu empfinden: Daraus erwächst die Bewunderung und das Staunen des Philosophen. Reflexiv diese Kraft und Größe der Natur zu betrachten, bedeutet, sich über die wesentliche Verbindung zwischen allen Dingen zu erstaunen, in der die Relativität unserer Existenz erscheint. Es geht darum, denken zu können, als ob diese unermessliche Natur der Ort wäre, an dem wir uns alle als eins erkennen. Solche Erstaunen und Bewunderung vom ästhetischen Standpunkt aus zu betrachten, bedeutet, das Erhabene zu erfahren. Wagner und seine Musik ist eine Erfahrung des Erhabenen, nicht so sehr wegen der Perfektion der Komposition seiner Noten, sondern vielmehr, weil wir in diesem großen Werk unsere Erfahrung endlicher Wesen vor Schmerz und Tod, Leben und Willenskraft, vor Individualität und der Beziehung zum Ganzen finden.

Diese Erhabenheit zu verstehen, ist die Aufgabe der Philosophie. Wenn man also philosophiert, vergisst man seine Individualität und wird sozusagen zu einem reflektierenden Blick, der sich über die Faktizität stellt und ihre Abhängigkeit von der Welt überwindet. Ist das irgendwie möglich?

Peter Paul Rubens – The Judgement of Paris, c.1606 (Museo del Prado)

Wenn Schopenhauer die Welt als Vorstellung betrachtet, fragt er, wie es möglich ist, dass die Welt als Objekt für die Erkenntnis eines Subjekts erscheint, und er wird sagen, dass dies nur unter der Bedingung des Satzes vom zureichenden Grund (d.h. in Übereinstimmung mit den Beziehungen von Raum, Zeit und Kausalität) möglich ist. Damit bejaht Schopenhauer nicht, dass wir die Sonne kennen, sondern er meint damit, dass wir ein Blick sind, der die Sonne sieht, denn damit ist nur gesagt, dass die Welt unsere Vorstellung ist, wo unser Körper der Ausgangspunkt für unseren Verstand ist.
Mit dieser Prämisse vollzieht Schopenhauer eine entscheidende Wende in der Philosophie der modernen Tradition von Descartes bis Hegel. Anstatt vom Geist auszugehen, geht Schopenhauer von der Realität des Körpers aus und betrachtet den Körper als den primärsten Zugang zur Welt. Weder Gott noch Vernunft noch Geist sind die Prinzipien seines Denkens, sondern nur die faktische Existenz des Menschen.

Die Welt hat nicht nur einen physischen Sinn, sondern darüber hinaus auch einen metaphysischen Sinn. Die Welt ist Vorstellung, aber sie ist auch Wille.

Um zu verstehen, was Schopenhauer als <principium individuationis> (Individuationsprinzip) interpretiert, möchte ich zunächst eine kurze Einführung in einige Gedanken geben, die mir geholfen haben, den philosophischen Vorschlag besser zu verstehen.

Die Welt als Vorstellung ist immer ein Objekt für ein Subjekt und als solches unterliegt sie den Formen des kognitiven Apparates eines solchen Subjekts: Raum und Zeit. Beide sind für Schopenhauer auch a priori Formen der Sensibilität, und in diesem Sinne folgt er Kants Transzendentaler Ästhetik. Wie Immanuel Kant vertrat auch Schopenhauer die Auffassung, dass Raum und Zeit die Möglichkeitsbedingung aller Erfahrung sind, also die Elemente, die das Ausmaß des Phänomens bestimmen. Zusammen mit diesen Formen der Sensibilität wird die Welt als Vorstellung auch der a priori Form des Verstandes unterworfen sein: der Kausalität.

Die konstitutiven Formen der Welt als Vorstellung werden Raum, Zeit und Kausalität sein. Diese Formen werden die Bedingungen der Möglichkeit des Individuums in einem doppelten Sinne sein: die ersten beiden werden die Möglichkeit darstellen, ein Individuum zu sein, während die dritte diejenige sein wird, die die Existenz jedes Individuums ermöglicht.

Die Vereinigung von Raum und Zeit ist das, was die Existenz der Dinge in der objektiven Welt ermöglicht. Nur die Veränderung, die die Zeit erlaubt, und die Gleichzeitigkeit, die der Raum erlaubt, machen die Dauer der Dinge möglich. Die Materie ist die objektive Vereinigung dieser beiden Realitäten, da es die Möglichkeit gleichzeitig existierender Objekte mit einer bestimmten Dauer ist, die ihnen dank der zeitweiligen Erbfolge Dauerhaftigkeit in der sukzessiven Variation der Zustände verleiht (WWV I, § 4).

Kausalität ist, wie Raum und Zeit, etwas, das a priori verstanden werden kann. Für Arthur Schopenhauer liefert die Sensation kein Wissen über die objektive Welt, aber sie ist eine einfache „Information“ für den Verstand. Er ist derjenige, der diese Daten durch Ausfüllen einer Lücke als außerhalb des Subjekts liegend platziert. Diese Verortung außerhalb des Subjekts ist die Operation des Verstandes (ihr Wirken): Kausalität. Darin liegt seine Hauptfunktion, anhand derer Schopenhauer die Entstehung der Außenwelt erklärt: Die Hauptaufgabe des Verstandes besteht darin, aus der sich daraus ergebenden Wirkung, dass der Verstand einen äußeren Gegenstand als Ursache der Empfindung setzt, auf die Ursache zu schließen und so die subjektive Empfindung in objektive Intuition umzuwandeln (WWV I, §4).

Arthur Schopenhauer wird den Formen von Raum und Zeit die Rolle des principium individuationis zuweisen, aufgrund dessen die Pluralität der Individuen (Möglichkeit der Vielheit) in der Welt als Vorstellung existieren kann (WWV I, §23).

Das Prinzip der Individuation erzeugt Pluralität, indem es sich um das hüllt, was eins ist: den Willen und die Ideen. Der Wille, als das „Wesen selbst“ der Welt, ist frei von allen Formen des Wissens, er ist aller möglichen Pluralität fremd. Die Welt, die selbst dieser Wille ist, betrachtet unter den kognitiven Formen eines Subjekts, ist Vorstellung. Nur in der so betrachteten Welt wird das >principium individuationis< wirken, aber nur dort, wo die kognitiven Formen von Raum und Zeit wirken; deshalb sind Ideen, deren einzige Form die elementarste ist (Objekt für ein Subjekt zu sein), für Schopenhauer trotz ihres Wohnsitzes in der Welt als Vorstellung der Pluralität fremd und werden nur als Pluralität von Wesen betrachtet, indem sie durch die Formen menschlicher Sensibilität vermittelt werden, die durch zeitliche Abfolge und räumliche Koexistenz eine Pluralität von Wesen derselben Art erzeugen.

Sehen wir uns an einigen Beispielen aus dem Alltag an, wie das Prinzip der Individuation durch Abstraktion (d. h. Trennung) funktioniert. Wenn wir einen Raum betreten, in dem sich mehrere Personen unterhalten, und plötzlich jemand unseren Namen ruft, filtern wir aus allen Geräuschen, die unser Ohr erreichen, diejenigen heraus, die der Stimme der Person entsprechen, die uns ruft; wir schenken diesem Geräusch unsere Aufmerksamkeit und abstrahieren es vom Rest.
Das Gleiche geschieht in einem Film, einem Theaterstück oder einem Roman, in dem die Hauptfiguren klar von den übrigen Personen getrennt sind. Die Literatur als menschliche Schöpfung ist eine Übung in Abstraktion, bei der die Existenz einzelner Individuen getrennt und mit Bedeutung versehen wird. Aber in einer realistischen Analyse muss die menschliche Existenz als Teil eines Ganzen betrachtet werden, und jede Perspektive aus der Sicht der Psychologie eines einzelnen Individuums ist sicherlich unvollständiger als die soziologische Gesamtanalyse.

Die Individualität durch das principium individuationis führt nach Schopenhauer zu folgenden Konsequenzen: körperliche und moralische Übel, sowie Egoismus und Schuldgefühle. Das principium individuationis ist das, was die Pluralität der Individuen unter den Formen von Raum und Zeit ermöglicht; und daher ist es das, was verhindert, dass jeder Einzelne sieht, dass seine anderen Mitmenschen genauso sind wie er selbst. Mit Egoismus erzeugen menschliche Handlungen das Leiden anderer, nicht als Zweck, sondern als Mittel zum eigenen Vorteil. Daraus folgt, dass der Einzelne so wie „ein Fehler“ ist: Er leidet aufgrund seines bedürftigen Zustands, aber auch aufgrund des Handelns anderer, so wie er derjenige ist, der das Leiden anderer verursacht, indem er durch das principium individuationis ignoriert, dass der andere, dem geschadet wird, er selbst ist.

Das Individuum ist unter dem kognitiven Irrtum, der durch den Willen erzeugt wird, der sich unter den Formen des Satzes vom Grunde, unter dem <Schleier der Maya>, sehnt, derjenige, der in seinem eigenen Wesen Leiden verursacht und es in vielfältigen Formen unter dem Antlitz der verschiedenen Individuen durch seine egoistischen Handlungen angreift.

Individualität ist der Ursprung des Leidens, denn es sind nicht Ideen (abgesehen von Raum, Zeit und Kausalität), sondern Individuen, die sich gegenseitig bekämpfen, leiden und verschlingen, durch das egoistische Verhalten, das der Schleier der Maya erlaubt. Wenn Schopenhauer also darüber nachdenkt, wie dem Leiden ein Ende bereitet werden kann, wird er seine Ästhetik und Moralphilosophie in erster Linie auf die Überwindung dieser Individualität ausrichten.

Eine der interessantesten Ideen Schopenhauers ist für mich, dass der ästhetische Genuss durch die Betrachtung der Kunst oder durch die ästhetische Betrachtung der Natur das Individuum dazu bringt, einen solchen individuellen Zustand zu überwinden, um jenes reine, avolitive Subjekt der Erkenntnis zu werden, das am Rande von Raum, Zeit und Kausalität steht und das deshalb <Ideen betrachtet>. Was der ästhetische Genuss bewirkt, ist nichts anderes als die momentane und vorübergehende Unterdrückung des Willens. Durch seine Interpretation des principium individuationis schlägt Schopenhauer nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine moralische Überwindung durch Mitgefühl vor, aber diese Studie wird für eine spätere Zeit sein.

Unser Philosoph war der Meinung, dass jede Vorstellung von Individuation, der Glaube, ein separater Teil des Universums zu sein, aus dem Egoismus und der Bosheit der Menschen entspringt; während aus dem gegenteiligen Glauben Selbstlosigkeit, Mitgefühl für andere Lebewesen und gute Taten für andere erwachsen. Man kann den Einfluss der östlichen Weisheitslehren in seinem Denken erkennen: Anderen Leid zuzufügen bedeutet, sich selbst Leid zuzufügen, denn der andere ist nicht anders als man selbst.

Ist die Abstraktion im Ganzen ein Ziel? Nein. Es ist ein Weg, ein unendlicher Weg. Es ist unmöglich, das Universum als Ganzes in begrenzten Wesen wie uns zu spüren. Es ist jedoch möglich, sich vom „Ich bin“ zu entfernen und sich auf der Suche nach Identität irgendwo in der Ewigkeit zu verlieren.

Eines zu sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.

Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht.

Eines zu sein mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewigeinigen Welt, wie die Regeln des ringenden Künstlers vor seiner Urania, und das eherne Schicksal entsagt der Herrschaft, und aus dem Bunde der Wesen schwindet der Tod, und Unzertrennlichkeit und ewige Jugend beseliget, verschönert die Welt.

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 3, Stuttgart 1958. Hyperion, S. 10.


Bild Porträt: Schopenhauer: El arte de sobrevivir. Ed. Herder, Madrid, 2013.

Bibliographie:

Schopenhauer, Arthur: Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987.

Schopenhauer, Arthur: Werke in zehn Bänden, Zürich 1977.

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