„Haben wir etwas gelernt? Menschen lernen selten aus der Geschichte, und die Geschichte des Naziregimes bildet keine Ausnahme.“ Prof. Dr. Yehuda Bauer ist wissenschaftlicher Berater von Yad Vashem und der Task Force für Internationale Kooperation bei Holocaust-Bildung, Gedenken und Forschung. Die folgende Rede hielt er anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.1998 im Deutschen Bundestag. |
Gedenkrede von Prof. Dr. Yehuda Bauer
Am 27. Januar 1945 besetzte die sowjetische Armee den Lagerkomplex Auschwitz. Befreit jedoch wurden weniger als 7.000 Menschen, hauptsächlich Kranke, die von der SS am Leben gelassen wurden. Die anderen 58.000 waren einige Tage zuvor auf den Todesmarsch gegangen.
Ihnen folgten dann, in den vier Monaten bis zum Ende des Krieges, viele Hunderttausende aus fast allen KZs – in den letzten krampfhaften und unendlich brutalen Auswirkungen des schlimmsten Regimes, das je die Welt entstellt hatte. Am 27. Januar war das Grauen noch lange nicht zu Ende, aber ja: Auschwitz war schon nicht mehr in den Händen der Mörder.
Haben wir etwas gelernt? Menschen lernen selten aus der Geschichte, und die Geschichte des Naziregimes bildet keine Ausnahme. Wir haben auch nicht den allgemeinen Kontext verstanden. In unseren Schulen lehren wir zum Beispiel über Napoleon und darüber, wie er die Schlacht von Austerlitz gewann. Ganz allein hat er sie gewonnen? Vielleicht hat ihm dabei noch jemand geholfen? Ein paar tausend Soldaten vielleicht? Und was geschah mit den Familien der toten Soldaten, mit den Verwundeten, die es auf allen Seiten gab, mit den Dorfbewohnern, deren Dörfer zerstört wurden, mit den Frauen, die vergewaltigt wurden, mit dem Hab und Gut, das geraubt wurde? Wir lehren noch immer über die Generäle, die Politiker und die Philosophen; wir vermeiden es, die dunkle Seite der Geschichte wahrzunehmen: den Massenmord, die Qual, das Leiden, die uns aus der gesamten Historie entgegenschreien. Wir hören nicht das Jammern der Clio. Wir verstehen noch immer nicht, daß wir unsere Neigung zur gegenseitigen Vernichtung nicht bekämpfen können, ohne daß wir darüber lernen und lehren und uns vergegenwärtigen, daß der Mensch das einzige Säugetier ist, das fähig ist, seine eigene Art in Massen zu vernichten.
Der amerikanische Soziologe Rudolph Rummel kam zu dem Schluß, daß zwischen 1900 und 1987 an die 169 Millionen Zivilisten von Regierungen und regierungsähnlichen Organisationen ermordet wurden – ganz abgesehen von den zirka 34 Millionen gefallener Soldaten. Wer hat das alles verbrochen? Hauptsächlich nicht-demokratische Regime. Zwar haben auch Demokratien Verbrechen verübt, doch sind sie nur für den Bruchteil eines Prozentes der Anzahl der Zivilopfer verantwortlich gewesen.
Die Statistiken sind nur zum Teil nützlich. Eigentlich enthüllen sie die Tragödie nicht; sie verdecken sie. Wir wissen ja: Menschen wurden gepeinigt und ermordet, nicht Statistiken. Und doch: Es passierte einer unmöglich großen Anzahl von Menschen, die wie Sie und ich waren. Der von dem nationalsozialistischen Deutschland aus hauptsächlich ideologischen Gründen angezettelte Krieg kostete das Leben von vielleicht 49 Millionen Menschen – die meisten von ihnen Zivilisten. Wenn man die Definition der Vereinten Nationen für den Genozid akzeptiert, so war das, was der polnischen Nation und den Roma, von anderen „Zigeuner“ genannt, widerfuhr, ein Genozid. Die polnische Nation als Nation sollte verschwinden; von Massenmord begleitet wurde die intellektuelle polnische Schicht ein Ziel der Vernichtung, Universitäten und Schulen wurden abgeschafft, der Klerus wurde dezimiert, alle wichtigeren wirtschaftlichen Betriebe wurden beschlagnahmt, Kinder polnischen Familien entzogen und zur „Eindeutschung“ nach Deutschland entführt. Die deutschen Sinti und Roma sollten verschwinden – durch Massenmord, durch Sterilisation. Wandernde Roma sollten überall in Europa ermordet werden, ansässige – so hieß es – würden toleriert werden. Millionen von Russen und anderen sowjetischen Völkern, aber auch von Westeuropäern, Italienern, Balkanvölkern und Deutschen fielen dem Regime zum Opfer.
Warum eigentlich? Ich glaube, man muß sich klar werden, daß hier eine radikale Revolution geplant war, ein Sichauflehnen gegen alles, was vorangegangen war. Keine Neuordnung von sozialen Klassen, von Religionen oder sogar Nationen war vorgesehen, sondern eine ganz neue Hierarchie – auf sogenannten Rassen aufgebaut, bei der eine erfundene Herrscherrasse nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hatte, die anderen zu beherrschen und von ihr als andersartige Menschen definierte Gruppen zu versklaven oder zu ermorden. Das war eine universelle Ideologie: Heute gehörte ihnen Deutschland, morgen die ganze Welt.
Wie konnte sich ein Kulturvolk, das im Herzen Europas eine der größten Zivilisationen, die es je gab, entwickelt hatte, einer solchen Ideologie verschreiben, für sie in einen Vernichtungskrieg gehen und an ihr bis zum bitteren Ende festhalten? Das war nicht nur Terror, meine Damen und Herren; das war ein Konsens, der auf dem Versprechen einer wunderbaren Utopie basierte – der Utopie von einer idyllischen, weltbeherrschenden Volksgemeinschaft, ohne Reibungen, ohne Parteien, ohne Demokratie, von Sklaven bedient. Um das zu erreichen, mußte man sich gegen alles aufbäumen, was vorangegangen war: bürgerliche und jüdisch-christliche Moral, individuelle Freiheit, Humanismus, das ganze Gepäck der französischen Revolution und der Aufklärung überhaupt. Der Nationalsozialismus war wohl die radikalste Revolution, die je stattgefunden hatte – ein Auflehnen gegen das, was man bis dahin als Menschlichkeit betrachtet hatte.
Der Kern der Vernichtungsstrategie gegenüber sogenannten Andersartigen war der Holocaust, der Plan der totalen Vernichtung des jüdischen Volkes und der Mord an all den Juden, die von den Mördern erreicht werden konnten. Und das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, daß die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, daß sie menschlich waren – wie Sie und ich. Wenn wir sagen, daß sie anders waren als wir und daß wir in Ruhe schlafen können, denn die Nazis waren Teufel, und wir sind eben keine Teufel, weil wir keine Nazis sind, so ist das eine billige Ausflucht. Eine genauso billige Ausflucht ist es, wenn man sagt, daß die Deutschen irgendwie genetisch programmiert waren, diesen Massenmord durchzuführen. Da die meisten Menschen keine Deutschen sind, glauben viele, daß das, was damals geschah, bei niemandem mehr passieren kann und daß es nur in Deutschland geschehen konnte. Das ist umgekehrter Rassismus.
Das ist nun fast 60 Jahre her. Man möchte glauben, daß schon längst der berühmte Schlußstrich hätte gezogen werden sollen, daß das Interesse an diesem spezifischen Völkermord langsam abflauen würde; doch das Gegenteil trifft zu: Es vergeht kaum eine Woche, ohne daß in der Welt neue Bücher, Memoiren, Romane, wissenschaftliche Abhandlungen, Theaterstücke, Gedichte, Fernsehfilme und andere Filme und vieles andere noch erscheinen. Nicht wenig davon mag Kitsch sein; doch ist auch vieles wertvoll. Und wieder muß man fragen: Warum? Warum der Holocaust und nicht die Kambodier, die Tutsi, die Bosnier, die Armenier, die nordamerikanischen Indianer?
Ich bin mir durchaus nicht sicher, daß meine Antwort auf diese ganz zentrale Frage richtiger ist als jede andere, aber ich möchte sie Ihnen doch anbieten. Ich glaube nicht, daß der Sadismus und die Brutalität, mit der die Opfer malträtiert wurden, eine Erklärung bieten können; denn Leid, Pein und Qual lassen sich nicht vergleichen. Ich habe eine Zeitzeugenaussage einer Sintessa auf englisch veröffentlicht, einer Frau, die in Auschwitz ihren Mann verlor und mit eigenen Augen ihre drei Kinder hat sterben sehen. Wie soll man das mit dem Schicksal eines Juden oder eines russischen Bauern oder eines Tutsis oder eines Kambodiers vergleichen können? Man kann doch nicht sagen, daß ein Massenmord besser oder schlimmer als der andere ist, ein Mensch mehr gelitten hat als ein anderer. Ein solches Urteil wäre widerlich. Sind die Brutalität, der Sadismus dann das Besondere am Holocaust? Ja, das nationalsozialistische Deutschland hat so einiges diesem traurigen Repertoire hinzugefügt, aber die Brutalität ist kaum ein Novum in der Geschichte gewesen. Ist etwa die Tatsache eines von Staats wegen mit moderner Technologie und bürokratischer Gründlichkeit durchgeführten Massenmordes das Besondere? Ich glaube nicht. Der Genozid an den Armeniern wurde mit den damals verfügbaren technologischen und bürokratischen Mitteln vollzogen. Und die Nazis selbst haben das, was sie an den Polen und den Roma verbrochen haben, mit denselben Mitteln getan, die sie auch gegen die Juden anwendeten.
Nein, ich glaube, die Antwort liegt anderswo. Sehen Sie, zum erstenmal in der Geschichte wurden alle Menschen, die von drei oder vier gewissen – in diesem Fall jüdischen – Großelternteilen abstammten, zum Tode verurteilt, weil sie geboren wurden. Das, die Geburt, war die Todsünde, die mit dem Tod geahndet werden mußte. Das war noch nie – nirgendwo – vorher geschehen. Zweitens sollte jeder Mensch jüdischer Abstammung überall dort erreicht werden, wo das Nazi- Deutschland Einfluß hatte, also überall in der Welt, die „uns“ ja morgen gehören sollte – allein oder durch Verbündete. Der Judenmord richtete sich nicht gegen deutsche oder polnische oder sogar europäische Juden, sondern gegen alle 17 Millionen Juden, die verstreut in der Welt von 1939 gelebt hatten. Alle anderen Völkermorde fanden auf bestimmten, wenn auch manchmal sehr weitgesteckten Territorien statt; der Mord an den Juden war universell, weltweit gedacht.
Drittens, die Ideologie. Viele meiner Kollegen haben die Struktur des Nazismus analysiert, die Bürokratie, das Alltägliche an der Mordmaschine. Das ist ja alles sehr richtig. Aber warum haben die Bürokraten, die mit denselben administrativen Mitteln deutsche Schulkinder per Bahn in Ferienlager und Juden in Todeslager brachten, das letztere getan? Warum mordete man Juden und nicht alle grünäugigen Menschen, die man finden konnte? Das durch gesellschaftliche Strukturen, so wichtig die auch sein mögen, erklären zu wollen leuchtet mir nicht ein.
Die Motivation war ideologisch. Die rassistisch-antisemitische Ideologie war die rationale Folge einer irrationalen Einstellung – einer Einstellung, die eine krebsartige Mutation christlich- anitsemitischer Ideologie war – und hat die seit zwei Jahrtausenden bestehenden christlich- jüdischen Beziehungen besudelt. Der Nazi-Antisemitismus war reine Ideologie, mit minimalem Bezug auf die Wirklichkeit. Juden wurden einer Weltkonspiration beschuldigt – eine von mittelalterlichem Judenhaß stammenden Idee -, während in Wirklichkeit Juden nicht imstande waren, auch nur einen teilweisen Zusammenschluß zu erreichen. Unter uns gesagt, sie sind es auch heute nicht. Die Konspiration bestand zwar, aber sie war nicht jüdisch, sondern nationalsozialistisch.
Juden wurden beschuldigt, sowohl revolutionäre Agitatoren als auch Kapitalisten zu sein – das hieß, daß man die verschiedenen Phobien auf einen Nenner brachte. Die meisten waren natürlich weder das eine noch das andere, sondern niederer oder mittlerer Mittelstand. Sie besaßen weder Territorien noch militärische Macht, beherrschten keine nationale Wirtschaft, schon aus dem einfachen Grund, weil sie keine Körperschaft bildeten, sondern als einzelne in kleinen religiös- ethnischen Gemeinschaften ihre Traditionen in gegenseitig widersprüchlichen Auslegungen pflegten oder als Agnostiker oder Atheisten gar nicht zu Gemeinden gehörten.
Bei allen anderen Völkermorden, die wir kennen, war das Motiv irgendwie realistisch, wie bei dem Mord der Armenier, wo ein nationalistischer Beweggrund da war, oder in Ruanda, wo ein Streit um die Macht und um Land ausschlaggebend ist. Bei der Shoa ist die völkermordende Ideologie auf reiner Phantasie aufgebaut, zum erstenmal in der Geschichte.
Man könnte noch ein viertes Element zu den präzedenzlosen Charakteristiken des Holocaust hinzufügen: Die Nazis mögen das KZ nicht erfunden haben, aber sie haben es zu einer ganz neuen Entwicklung gebracht. Nicht nur der Mord und das Leiden in diesen Höllen soll uns beschäftigen, sondern die hohe Kunst der Erniedrigung, der Versuch, Menschen zu entmenschlichen, indem sie durch ihre physiologischen Bedürfnisse kontrolliert wurden. Das ist ohne Vorgang in der menschlichen Geschichte. Das geschah nicht nur gegenüber den Juden, aber die Juden standen auf der untersten Stufe dieser Hölle. Was die Nazis damit erreichten, war nicht die Entmenschlichung der Juden, sondern ihrer selbst; denn sie stellten sich damit auf die niederstmögliche Stufe der Menschheit.
Was haben die Nazis hinterlassen? Wo sind ihre literarischen, künstlerischen, philosophischen, architektonischen Errungenschaften? Das Nazireich löste sich ins Nichts auf; nur ein Denkmal blieb übrig: die Überreste der KZs und an deren Spitze die einzige große Leistung des Nazismus: Auschwitz und der Massenmord.
Es ist das Präzedenzlose am Holocaust, das man, so glaube ich, überall in der Welt anfängt zu verstehen. Hier hatte ein ganz besonderer Völkermord stattgefunden – total, global, rein ideologisch. Er kann sich wiederholen, bestimmt nicht genau in derselben Form, aber ähnlich, sehr ähnlich vielleicht, und ich kann Ihnen nicht sagen, wer das nächste Mal die Juden und wer die Deutschen sein würden.
Diese Bedrohung ist universell, aber – da sie auf der Erfahrung des Holocaust basiert – sehr spezifisch mit den Juden verbunden. Das Spezifische und das Universelle sind unteilbar. Eben das Extreme am Holocaust erlaubt es, ihn mit anderen Völkermorden zu vergleichen, ihn als Warnung darzustellen. Er ist ja schon kopiert worden, nicht in derselben Form, aber in ähnlichen Formen. Soll die Warnung ignoriert werden? Soll der Holocaust als Präzedenzfall für andere dienen, die anderen dasselbe antun möchten?
Wie konnte es also dazu kommen? Ich glaube, man muß sich auf die althergebrachte Tradition besinnen, in dem Buch enthalten, das von meinen Vorfahren stammt. Dort wird gesagt, daß der Mensch wählen kann zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod. Das heißt natürlich, daß er beides kann, daß in ihm beides existiert, Gott und Satan – oder, modern ausgedrückt, daß der Lebenstrieb und die Todessucht, sich selbst gegenüber oder gegenüber anderen, in uns sind. Unter gewissen Umständen können wir Eichmann sein – oder Retter.
Also Deutschland: Wir sprechen hier nicht von Schuld, sondern von der Verantwortung einer Kultur, in der dieses Monstrum sich entwickeln konnte für ihre eigene Zukunft; denn der Tod, Sie wissen es ja, meine Damen und Herren, der Tod war ein Meister aus Deutschland – obwohl die Juden niemals Feinde der Deutschen oder Deutschlands gewesen waren. Ganz im Gegenteil doch. Deutsche Juden waren stolz darauf, viel Gutes für die deutsche Zivilisation geleistet zu haben.
Wie kann man dann das Naziregime erklären? Ich glaube, daß es eine pseudo-intellektuelle Elite war, die in Deutschland die Macht eroberte, nicht weil die Massen die potentiell genozidale Ideologie unterstützten, sondern wegen der Situation einer tiefen Krise, in der die potentiell genozidale Führungsschicht einen scheinbaren Ausweg in eine wunderschöne Utopie anbot. Das Entscheidende daran war, daß die intellektuelle Schicht, die Akademiker, die Lehrer, die Studenten, die Bürokraten, die ärzte, Anwälte, Ingenieure sich der Nazipartei anschlossen, weil sie ihnen Status und eine Zukunft versprach. Mit der schnell anwachsenden Identifizierung der intellektuellen Schichten mit dem Regime konnte dann leicht der Genozid als unumgänglicher Schritt zum Erreichen der Utopie dargestellt werden. Wenn der Herr Doktor, der Herr Professor, der Herr Direktor, der Herr Pfarrer oder Priester, der Herr Ingenieur an der Sache mitmachten, wenn ein Konsens sich entwickelte, von der halb mythischen Figur des Diktators geführt, so wurde es leicht, die Masse zu überzeugen und aus ihr die Täter zu rekrutieren.
Ähnliches könnte auch anderswo geschehen, aber in Deutschland, wo wenigstens ein Teil der Eliten im 19. Jahrhundert einen radikalen Antisemitismus und dann auch einen allgemeinen Rassismus verinnerlichte, fiel es der genozidalen Naziführungsschicht leichter, die Mehrheit der deutschen Gesellschaft zu Mittätern zu machen. Den Hauptanteil daran hatten die Universitäten, die Akademiker. Ich frage mich wieder, ob wir das wirklich gelernt haben, ob wir an unseren Universitäten nicht noch immer technisch kompetente Barbaren erziehen.
Und die Kirchen? Der Holocaust hat eine tiefe Krise des Christentums ans Licht gebracht: 1900 Jahre nach dem Erscheinen des christlichen Messias, der die Botschaft der Liebe brachte, wurde sein Volk von getauften Heiden ermordet. Die Kirchen schwiegen, insofern sie nicht mitmachten.
Dabei kann man durchaus nicht sagen, daß in der deutschen Gesellschaft eine radikale antisemitische Norm gewaltet hätte – aber ein allgemeines Unbehagen gegenüber den Juden schon, sogar in den nicht- und sogar anti-antisemitischen Massenbewegungen der Sozialdemokratie, der Kommunisten und des katholischen Zentrums, die bis Ende 1932 die Mehrheit der deutschen Wählerschaft ausmachten. Dieses Unbehagen machte es schier unmöglich, einen allgemeinen Protest gegen den Judenmord zu entwickeln. Nicht daß die Diktatur so ganz totalitär gewesen wäre, so daß eine Protestbewegung prinzipiell unmöglich war! Nicht nur der Protest gegen den Mord an deutschen Behinderten, der im August 1941 in einen wenigstens teilweisen Stopp der sogenannten Euthanasie mündete, bezeugt das, sondern auch der Protest der deutschen Frauen in der Berliner Rosenstraße im Februar 1943, der zur Befreiung ihrer jüdischen Männer führte. Die Brüchigkeit der vielbesungenen deutsch-jüdischen Symbiose zeigt sich in der Tatsache, daß eine Massenbewegung zur Verteidigung der mindestens unpopulären jüdischen Minorität ganz außerhalb der Möglichkeiten stand.
Es scheint mir, daß da noch ein anderer Faktor mitspielt. Die europäische Kultur ist auf zwei Säulen aufgebaut: Athen und Rom auf der einen Seite, Jerusalem auf der anderen. Wenn ein gewöhnlicher Bürger vor zwei Jahrhunderten überhaupt ein Buch besaß, so war es die christliche Bibel, die, wie bekannt, zweiteilig ist und das Alte und das Neue Testament beinhaltet. Beide wurden in der Hauptsache von Juden geschrieben.
Griechisch-römische Literatur, Recht, Kunst und Philosophie sind und waren bestimmt ebenso wichtig wie die Propheten und die moralischen Gebote der jüdischen Bibel. Doch das moderne Italien und Griechenland sprechen nicht mehr dieselben Sprachen, glauben nicht mehr an dieselben Götter, praktizieren nicht mehr dieselbe Kunst, schreiben keine Fortsetzungen derselben Literatur mehr. Die Völker, die dort wohnen, sind andere. Aber meine Enkelin liest das, was vor 3 000 Jahren geschrieben wurde, im Original, ohne Wörterbuch. Versuchen Sie das einmal mit Walther von der Vogelweide – und das liegt doch nur einige hundert Jahre zurück.
Wenn die Nazis ihre Rebellion gegen die Kultur des Abendlandes tätigen wollten, mußten sie da nicht die Juden, das noch lebende Symbol des Ursprungs jener Kultur, vernichten? Die Juden, ob sie selbst es wollen oder nicht, sind ein zentraler Bestandteil des abendländischen Selbstverständnisses. Das wird sowohl durch die westliche Zivilisation als auch durch populäre Kitschkultur, die auch vom Westen kommt, in der ganzen Welt verbreitet.
Es gibt ein Auschwitz-Museum in einer Vorstadt von Hiroschima. Holocaust-Literatur wird in Südamerika gelesen. Der Holocaust ist zum universellen Symbol des Bösen schlechthin geworden, weil er die extreme Form des Genozids darstellt, weil er Elemente beinhaltet, die präzedenzlos sind, weil die Tragödie eine jüdische war und weil die Juden, obwohl sie weder besser noch schlechter sind als andere und ihre Leiden nicht mehr oder weniger schlimm sind als die Leiden anderer, einen der Kerne der modernen Zivilisation darstellen.
Ein Historiker ist meiner Meinung nach jemand, der nicht nur Geschichte analysiert, sondern auch wahre Geschichten erzählt. Also will ich euch erzählen. In Radom in Polen lebte eine Frau mit zwei Söhnen. Ihr Mann ging 1939 nach Palästina, um die Einwanderung der Familie vorzubereiten. Der Krieg riß die Familie auseinander. Der Mann wurde palästinensischer Staatsbürger und versuchte, seine Familie durch Austausch gegen deutsche Siedler in Palästina zu retten.
Im Oktober 1942, als die Frau schon genau wußte, was ihr und den Kindern bevorstand, rief ein Gestapomann sie zum Amt und sagte, sie würde ausgetauscht werden. In einer Stunde müsse sie mit ihren zwei Söhnen bei ihm erscheinen. „Ja“, sagte die Frau „aber mein älterer Sohn arbeitet außerhalb des Gettos.“ Sie fragte, wie sie ihn rufen könne. Das interessiere ihn nicht, sagte der Gestapomann. In einer Stunde solle sie dasein. Und wenn nicht? Die Frau war verzweifelt. Sollten sie und ihr kleineres Kind das Schicksal ihres anderen Sohnes teilen? Oder sollte sie sich und den Kleinen retten? Da kam ihre Nachbarin und sagte: „Schau, du kannst deinen Sohn nicht retten. Nimm meinen gleichaltrigen Sohn statt deines.“ Weinend, geschockt stellte sich die Frau mit den zwei Kindern den Deutschen. Am 11. November 1942 war sie in Haifa. Die beiden Buben wurden zu prominenten israelischen Bürgern, mit Kindern und Enkeln.
Die Frau sprach nachher wenig. Sie war eine stolze Frau, die nicht von der Gnade anderer leben wollte. Bis zu ihrem Lebensende hatte sie einen kleinen Straßenladen gegenüber der großen Synagoge in der Allenbystraße in Tel Aviv. Man sagt, sie habe den Holocaust überlebt. Hat sie ihn wirklich überlebt? Ich bin mir dessen nicht sicher.
Der Holocaust – aber auch alles andere Schreckliche, das die Nationalsozialisten verbrochen haben – zeigt nicht nur das Böse, dessen der Mensch fähig ist, sondern – ganz am Rande sozusagen – auch das Gegenteil: das Gute. Oskar Schindler ist durch den bekannten Film eine umstrittene Figur geworden. Aber sehen Sie: Wenn man den Mythos wegnimmt, bleibt etwas. Schindler war nicht nur ein Parteimitglied, sondern auch ein Spion, ein Schürzenjäger, ein Alkoholiker, ein rücksichtsloser Ausnützer, ein Lügner. Sie würden kaum einen Menschen finden, dem Sie niedrigere Charakteristiken anhängen könnten. Und dann rettete er über eintausend Menschenleben, und zwar unter Gefährdung seiner Person. Er schleppte persönlich schwerkranke und sterbende jüdische Arbeitssklaven aus einem kalten Zug, um zu versuchen, ihr Leben zu retten. Er mußte es nicht tun; aber er tat es. Er fuhr nach Budapest, um die Juden dort vor dem Holocaust zu warnen. Er mußte es nicht; aber er tat es. Warum? Weil er ein Mensch war; und so schlimm er war, so gut war er.
Seine Geschichte zeigt, daß man als Deutscher, sogar als Parteimitglied, anders handeln konnte. Schindler und ähnliche Menschen – wie Otto Busse in Bialystok, der den jüdischen Widerständlern Waffen gab – zeigen, daß man hätte retten können. Die Taten dieser Menschen weisen einerseits auf die Schuld der anderen hin, zeigen andererseits aber auch, daß die Hoffnung nicht verloren ist.
Sehen Sie, da gibt es die Geschichte des Maczek. Eigentlich heißt er Mordechai. Sein Name ist das einzige, was er über sich weiß. Vor dem Krieg wurde er als Dreijähriger von seiner Mutter in ein jüdisches Waisenheim in Lodz eingeliefert – so hat man ihm nachher erzählt. Dann kam der Krieg, und er wurde in Krakau von einer polnischen Frau, Anna Pawlowa, erzogen. Natürlich dachte er, sie sei seine Mutter.
Als Sechsjähriger spielte er auf der Straße, und ein Auto mit deutschen Soldaten rammte ihn versehentlich. Die Soldaten wollten das Kind in ein Krankenhaus bringen, aber Anna wehrte sich dagegen mit allen Kräften. Sie wußte, daß, wenn man herausfände, daß das Kind beschnitten ist, es sofort ermordet werden würde.
Dann war der Krieg zu Ende, und eine Frau kam zu Anna. Anna sagte zu Maczek, daß diese Frau seine Mutter sei. Die beiden Frauen brachten den Jungen in ein Waisenheim in Lodz. Die Mutter verschwand und kam nie wieder. Maczek wurde nach Israel gebracht. Anna, die ihn gerettet hatte, starb kurz danach. Maczek weiß bis heute nicht, wer er ist. Er weiß nur, daß eine Polin sein Leben gerettet hat – weil sie ihn, ein jüdisches Waisenkind, geliebt hat.
Es gab die Annas und die Schindlers – nur waren sie zu wenige, viel zu wenige. Die meisten waren wie in der Geschichte – ob sie wahr ist oder nicht, weiß ich nicht; aber so wird erzählt -: Einer Jüdin sagte ein SS-Mann, daß sie am Leben bleiben könne, wenn sie errate, welches seiner Augen aus Glas und welches sein natürliches Auge sei. Ohne zu zögern zeigte sie auf eines der Augen und sagte: Das ist das Glasauge. Stimmt, sagte der SS-Mann. Woher weißt du das? Die Frau sagte: Weil es menschlicher ist als das andere.
So komme ich zurück zu der Frage, ob wir etwas gelernt haben. Ziemlich wenig, so scheint es. Aber die Hoffnung ist doch da – auch in dem traumatisierten Volk, zu dem ich gehöre. Sie, meine Damen und Herren, wie auch Mitglieder anderer demokratischer Parlamente, haben eine besondere Verantwortung – besonders als Europäer, besonders als Deutsche.
Ich brauche es Ihnen gar nicht zu sagen: Das, was in Ruanda oder Bosnien passiert ist, ist nebenan passiert. Sich da des Holocaust zu erinnern ist nur ein erster Schritt. Ihn und alles, was im zweiten Weltkrieg an Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhaß geschah, zu lernen und zu lehren ist der nächste verantwortungsvolle Schritt. Bei diesem Schritt sind wir, Deutsche und Juden, voneinander abhängig. Ihr könnt die Erinnerungsarbeit nicht ohne uns bewältigen, und wir müssen sicher sein, daß hier, woher der Holocaust kam, eine alt-neue, humane, bessere Zivilisation auf den Trümmern der Vergangenheit entstanden ist. Wir zusammen haben eine ganz besondere Verantwortung gegenüber der gesamten Menschheit.
Es gibt vielleicht noch einen weiteren Schritt. In dem Buch, von dem ich schon sprach, stehen die Zehn Gebote. Vielleicht sollten wir drei weitere Gebote hinzufügen. Du, deine Kinder und Kindeskinder sollen niemals Täter werden. Du, deine Kinder und Kindeskinder dürfen niemals Opfer sein. Du, deine Kinder und Kindeskinder sollen niemals, aber auch niemals passive Zuschauer sein bei Massenmord, bei Völkermord und – wir hoffen, daß es sich nicht wiederholt – bei Holocaust-ähnlichen Tragödien.
Yad Vashem
The Holocaust Martyrs‘ and Heroes‘ Remembrance Authority
Har Hazikaron
P.O.B. 3477
Jerusalem 9103401 Israel