Reichspogromnacht 1938: Die Gefahr ist wieder da!

Eine Tat dieser Art setzt einen funktionierenden Staatsapparat und Organisationen mit Befehl und Gehorsam voraus. Nicht wirksame Aufhetzung ist nötig, es reicht Indifferenz und Gleichgültigkeit. „Wir haben von nichts gewusst“ lautete die gängige deutsche Formel nach 1945, obwohl jeder wissen konnte, der wissen wollte.

Vor 85 Jahren, am 9. auf den 10. November 1938, brannten die Synagogen. Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem tausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens an diesem Tag konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in Europa.

In der Reichspogromnacht gingen in Deutschland mehr als 1.400 Synagogen in Flammen auf. Tausende von jüdischen Geschäften und Betrieben wurden ausgeraubt und zerstört. Der gängigen Zählung zufolge wurden im Laufe des Pogroms 91 Juden ermordet. In den darauffolgenden Tagen wurden etwa 30.000 jüdische Männer von der deutschen Polizei verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald gebracht. Hunderte von jüdischen Gefangenen kehrten nicht aus diesen Lagern zurück.

Die brennende Synagoge in Duderstadt am 10. November 1938 – gut zu erkennen ist die Vielzahl der Schaulustigen. © Stadtarchiv Duderstadt

Die öffentliche Zerstörung von Synagogen an sich war keine Erfindung des Novembers 1938. Bereits in den Monaten vor dem Pogrom kam es vor, dass die Synagogen kleinerer Gemeinden an „arische“ Besitzer übergeben wurden, die sie in manchen Fällen zu Scheunen und Ställen machten, während andere in Brand gesteckt wurden. In München, Nürnberg und Dortmund wurden bereits im Juni, August und September 1938 Synagogen gesprengt und zerstört. In diesen drei Städten versammelten sich deutsche Einwohner rings um die Synagogen und feierten öffentlich deren Zerstörung.

Was neu und charakteristisch für die Reichspogromnacht war, war die Systematik, mit der innerhalb einer einzigen Nacht die Synagogen im gesamten Reichsgebiet in Brand gesteckt wurden, was symbolisch das Ende der jüdischen Präsenz im deutschen öffentlichen Raum verkündete. Der Angriff auf die Juden ermöglichte es den Randalierern, ihren aufgestauten Hass auf beinahe jede beliebige Art zu entladen. An verschiedenen Orten, wie zum Beispiel in Regensburg, wurde das Pogrom von öffentlichen Erniedrigungen oder sogenannten „Schandmärschen“ begleitet. In München, wo die Ausschreitungen nach einer Hetzrede von Goebbels ausgebrochen waren, brachen die Randalierer in ein jüdisches Haus ein und ermordeten einen Juden in seinem Bett. In Köln gingen organisierte Gruppen von einer jüdischen Wohnung zur nächsten und warfen verschiedene Gegenstände, wie Bettzeug, Grammophone, Schreibmaschinen und sogar ein Klavier aus den Fenstern. In Baden-Baden zwangen die Randalierer einen ortsansässigen jüdischen Lehrer vom Lesepult der Synagoge Ausschnitte aus „Mein Kampf“ zu lesen. Danach setzten sie die Synagoge in Brand.

Die zentrale Stellung der Reichspogromnacht in der Geschichtsschreibung und im kollektiven jüdischen und deutschen Gedächtnis rührt daher, dass sie einen Wendepunkt in der Geschichte der Juden in Deutschland sowie in der antisemitischen Politik des Regimes und in der Einstellung der deutschen Gesellschaft gegenüber den Ereignissen darstellt. Die Zerstörung der Synagogen in Städten wie Worms und Regensburg, in denen jüdisches religiöses Leben bereits im Mittelalter existiert hatte, signalisierte das Ende der jüdischen Präsenz im deutschen Raum. Diese Tendenz zeigte sich auch darin, dass die nationalsozialistischen Behörden in den Tagen nach dem Pogrom die Schließung zahlreicher jüdischer Organisationen und Publikationsorgane betrieben, die jahrzehntelang in Deutschland aktiv gewesen waren und auch in den ersten Jahren des Regimes ihre Tätigkeit aufrechterhalten hatten.

Die Masseninhaftierung von 30,000 Juden in Konzentrationslagern kennzeichnete den Abschluss der Wende von der Politik der Isolation und Ausgrenzung der Juden, die die Nationalsozialisten seit 1933 betrieben hatten, hin zu einer brutaleren Politik der Vertreibung und erzwungenen Emigration. Im Januar 1939 nahm in Berlin die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ unter der Leitung von Adolf Eichmann ihre Tätigkeit auf und übertrug die Politik der erzwungenen Auswanderung, die seit dem Sommer 1938 in Wien ausgearbeitet worden war, auf die Gebiete des „Altreichs“. Man muss einen weiteren Wendepunkt darin sehen, dass diese Aktionen sich in aller Öffentlichkeit, vor aller Augen abspielten: die deutsche Zivilbevölkerung wurde jetzt direkt mit der antijüdischen Politik des Naziregimes konfrontiert.

Der Antisemitismus heute: Die Gefahr ist noch da

Der Antisemitismus ist leider lebendiger denn je. Auch wenn seine Untersuchung umfangreichere Arbeiten erfordert, möchte ich einen Teil des Vortrags von Detlev Claussen aus dem Jahr 2013 zitieren, in dem ich zeigen möchte, dass der Antisemitismus eine Praxis ist, die sich je nach den verschiedenen Zeiten wandelt und mutiert. Heute ist der Antisemitismus überall verbreitet, wo er unter dem Deckmantel der Kritik am Staat Israel (Kritik an der israelischen Politik ist legitim) öffentlich in den Volksdemonstrationen für ein „Free Palestina“ zum Ausdruck kommt, die in Wirklichkeit voller Hass gegen die Juden sind und darauf abzielen, den jüdischen Staat vollständig auszulöschen.

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© Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein

„Der Antisemitismus hat Geschichte; seine Gestalt hängt von der Gesellschaft ab, in der er praktiziert wird. Löst man den Antisemitismus aus seinem konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang, so geht man den Antisemiten in die Falle, die behaupten, den Antisemitismus habe es schon immer und überall gegeben. Die Antisemiten koppeln den Antisemitismus an die konkreten Juden, die diskriminiert und verfolgt werden sollen; aber über die Juden, über die sie sprechen, sind eine Abstraktion. Die Juden müssen durch eine gewaltsame intellektuelle und physische Operation zu Juden gemacht werden. Der gelbe Stern an Imre Kertesz ́ Brust mit der Aufschrift „Jude“ designiert ihn zum Opfer, macht ihn zum Ding, das zur „Sonderbehandlung“ (im Vortragstext deutsch) freigegeben ist. Mit seinem konkre- ten Selbstverständnis hat diese Designation nichts zu tun; aber in Zukunft wird er von dieser erfahrenen Gewalt nicht mehr abstrahieren können. Sein gesamtes literarisches Werk zeugt davon. Die Untersuchung des Antisemitismus sollte die gesellschaftlich erzeugte Gewaltpraxis sichtbar machen. Um ein mögliches Missverständnis vorweg auszuräumen: Ich gehe mit Brian Klug ganz d ́accord. Auch die Worte müssen ernst genommen werden; denn wie Hegel uns in der „Geschichte der Philosophie“ gelehrt hat, sind „Reden unter Menschen…. sehr wesentlich wirksame Handlungen.“ Antisemitismus kann als Praxis verstanden werden, die Juden in Wort und Tat verletzen soll.

Als die Antisemiten sich selbst als Antisemiten zu bezeichnen begannen, suchten sie bürgerliche Reputation und gaben sich einen wissenschaftlich klingenden Namen. Sie wollten sich von dem „Radauantisemitismus“ unterscheiden, der noch aus dem Beginn des bürgerlichen Jahrhunderts als Hep-Hep-Unruhen oder als „Katzenmusiken“ aus den gescheiterten 48er Revolutionen recht frisch in Erinnerung waren. Die Antisemiten hetzten die Bevölkerung auf und vergifteten die Öffentlichkeit mit unerträglicher Propagandaliteratur, die mit der „Gartenlaube“ bis in die Wohnzimmer vordrang. Sie fühlten sich bestätigt durch die Dreyfusaffäre im gehassten Nachbarland Frankreich und den periodisch aufbrechenden Pogromismus im russischen Zarenreich. Zur Rechtfertigung ihrer aggressiven Propaganda benutzten die Antisemiten alles, was ihnen in den Kram passte. Antisemiten konnten sich rassistischer Muster bedienen, wirkten aber keineswegs weniger bedrohlich, wenn sie es nicht taten. Antisemitismus wurde als politisches Mittel genutzt, um Massen zu mobilisieren.

Als solches nutzten ihn die Nazis auch; aber nach der Machtergreifung machten sie mehr als das. Sie versuchten mit den Mitteln des Staates mithilfe Polizei und Gesetz die Juden als Juden dingfest zu machen; der Antisemitismus wurde effektiv. Hitler nannte den nationalsozialistischen Antisemitismus einen „Antisemitismus der Vernunft“ in Abgrenzung vom „Antisemitismus des Gefühls“ aus der Zeit des Kaiserreichs. Ich bin Brian Klug dankbar, dass er in seiner lecture Bezug auf den Ausdruck „Reichskristallnacht“ genommen hat, der keineswegs ein euphemistischer Naziausdruck ist, sondern ein zeitgenössisches Produkt des Berliner Volksmunds. “Reichskristallnacht“ bezeichnet ironisch den manipulativen Charakter, die vorgetäuschte Spontaneität in dieser antisemitischen Nacht. Die SA wollte ein Pogrom veranstalten; aber er misslang. Es ist eine grausame Ironie der Geschichte, dass aus diesem missglückten Pogrom diejenigen unter den Nationalsozialisten bestärkt wurden, die das Versprechen „Endlösung der Judenfrage“ als einen Verwaltungsmassenmord im Halbdunkel geheimer Aktionen einlösen wollten. Eine Tat dieser Art setzt einen funktionierenden Staatsapparat und Organisationen mit Befehl und Gehorsam voraus. Nicht wirksame Aufhetzung ist nötig, es reicht Indifferenz und Gleichgültigkeit. „Wir haben von nichts gewusst“ lautete die gängige deutsche Formel nach 1945, obwohl jeder wissen konnte, der wissen wollte.

Es bedarf keiner großen intellektuellen Anstrengung, um Antisemitismus als einen Juden verletzenden Akt in Wort und Tat zu erkennen. Antisemitische Aggres- sion wird im gesellschaftlichen Kontext immer deutlich. Die Formel „Man wird doch einmal sagen dürfen…“ ist ein sicherer Hinweis auf einen modernisierten Antisemitismus, der die Aggression als angeblich unterdrückte Meinung verkleidet – „Ja, aber…“ – Antisemitismus möchte ich das nennen.“

Es scheint, dass selbst die Erinnerung nicht ausreicht nach den Ereignissen vor weniger als 100 Jahren, als der Hass auf die Juden systematisiert wurde und die Pforten der Hölle geöffnet wurden, die im kollektiven Gedächtnis der Menschheit in Auschwitz markiert wurden. Seit Anfang Oktober dieses Jahres 2023 beobachten wir, wie der Hass auf die Juden und den Staat Israel wieder zu einem Markenzeichen der Zeit wird. Auf den Straßen Deutschlands wird der Mord an israelischen Zivilisten öffentlich gefeiert. In vielen akademischen Kreisen wird der Antisemitismus mit der Ausrede relativiert, die Terroranschläge der Hamas seien das Ergebnis einer gewalttätigen Politik des israelischen Staates. Die Politik reagiert auf den exponentiellen Antisemitismus in Deutschland mit schönen Worten, aber wenig konkreten Maßnahmen. Überall auf der Welt gibt es Angriffe auf jüdische Einrichtungen. Juden gelten bereits in jedem arabischen und stark muslimischen geprägten Land als unerwünscht. Wir scheinen wieder ein Grauen zu erleben, das nur wenige zu sehen vermögen.
Welche Bedeutung hat das Gedenken heute? Manchmal scheint es, dass die Welt wieder dunkel wird und die meisten Menschen (auch viele Deutsche, die aufgrund ihrer Geschichte eine große Verantwortung für das Thema haben) die Realität nicht sehen wollen. Es wäre bedauerlich, wenn sich dieses Grauen wiederholen würde. Zum Schluss zitiere ich noch einmal den Autor: „Wir haben von nichts gewusst“ lautete die gängige deutsche Formel nach 1945, obwohl jeder wissen konnte, der wissen wollte.

Die Hoffnung lebt. Am Israel Chai!


Quelle:

  • The Jewish Museum Berlin, the Foundation “Remembrance, Responsibility and Future” and the Center for Research on Antisemitism Berlin.
  • Bild Porträt: © pa-picture alliance

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