Markus Gabriel zählt zu den originellsten und mutigsten Denkern der Gegenwart. Ausgehend von der ältesten Frage der Philosophie – der nach dem Unterschied zwischen Sein und Schein – fordert er eine radikale Neubeschreibung unseres Daseins und seiner leitenden Werte.
Mit einer radikal neuen Philosophie will Markus Gabriel unsere Gegenwart von ihren größten Irrtümern heilen. Im Zentrum seines «Neoexistentialismus» steht der Mensch als ein Wesen, das ständig in Gefahr steht, den wahren Schein mit dem falschen Sein zu verwechseln. Denn erst wenn der Mensch seine Stellung im Kosmos richtig versteht, öffnet sich ein Weg zur Bewältigung heutiger Sinnkrisen – seien diese politischer, ökologischer, moralischer oder existentieller Art.
Im Gespräch mit Wolfram Eilenberger erklärt der Bonner Philosoph, worin moralischer Fortschritt wirklich besteht, weshalb die Rede vom «postfaktischen Zeitalter» Unsinn ist und warum Fiktionen mindestens so real und rettend sind wie wissenschaftliche Tatsachen.
Jeder Beruf hat seine Tugenden. Aber die eines guten Politikers sind offensichtlich nicht die gleichen wie die eines Arztes, eines Soldaten, eines Philosophen oder eines Priesters. Genauso wenig wie diejenigen, die in der Welt der Privatsphäre regieren. Willy Brandt - zusammen mit Churchill, Adenauer, De Gaulle, Walesa und Havel als einer der größten Politiker der europäischen Nachkriegsgeschichte - hatte Eigenschaften, die für die gute Ausübung des politischen Berufs nicht sehr wichtig sind. Aber wer war dieser sensible Mann hinter der großen Figur des Willy Brandt? Ist emotionale Sensibilität ein gefährlicher Faktor für die politische Praxis?
Die politischen Tugenden waren nicht immer die gleichen. In der griechischen Polis wäre die Vermischung von Politik und Ökonomie ein Skandal gewesen. Heute, angesichts der Verwicklungen zwischen Politik und Wirtschaft, wäre es absurd, dies nicht zu tun. Eine der zentralen Fragen, die Machiavelli sich stellte, war, ob Tugend notwendig sei, um Politik zu betreiben. Er kam zu dem Schluss, dass ja, ein Politiker sollte Besonnenheit und Gerissenheit kultivieren. Es ist klar, dass der florentinische Denker nicht an Tugenden oder Eigenschaften dachte, die einen Politiker zu einem moralischen Menschen machen würden. Für Machiavelli waren Politik und Moral zwei Dinge, die niemals zusammengebracht werden sollten, denn wenn sie zusammengebracht würden, hätte dies für den Herrscher katastrophale Folgen, da er seine Macht verlieren und sicherlich getötet werden würde. Daher war ein tugendhafter Politiker für diesen Philosophen jemand, der seine Ziele erreicht hat, indem er alle zur Verfügung stehenden Mittel - gewaltsam oder nicht gewaltsam, legal oder nicht - einsetzte, um das konstituierte Regime zu erhalten. Das letztendliche Ziel eines jeden Politikers sei es nicht, Gerechtigkeit zu suchen, sondern Ruhm zu erlangen, d.h. die höchsten Ehren und Befugnisse. Jahrhunderte später schrieb ein anderer Philosoph, Immanuel Kant, sein Werk, um die Ideen Machiavellis zu widerlegen. Kant sagte, dass die Moral der Politik überlegen ist und dass letztere der Politik untergeordnet sein sollte. Daher sei ein tugendhafter Politiker, so Kant, einer, der seine Pflicht - mit seinen verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Verpflichtungen und Auflagen - ohne große Rücksicht auf die Konsequenzen, die dies mit sich bringen würde, erfüllt habe. Hinter dieser Idee steht ein Kant mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. War Willy Brandt ein Politiker, der um jeden Preis nach Macht strebte, oder eher ein idealistischer Politiker, ein Mann von politischer Tugend, der in seiner Bescheidenheit sein Bestes gab?
Die Tugenden richten sich nach den Bedingungen von Raum und Zeit dank der Fußspuren, die die großen Politiker hinterlassen haben. Es sind letztere - und nicht eine politische Theorie - die der Politik Form und Bedeutung gegeben haben. Willy Brandt gehörte zu diesen Figuren.
Brandt war kein Held des Widerstands. Er war nur ein würdiger Überlebender einer dezimierten politischen Klasse, der seine Biografie als Rebell begann, was bei jungen Politikern Tugend und nicht Defekt bedeutet. Wer in seiner Jugend nicht rebellisch war, ist nie jung gewesen. Vielleicht waren es diese rastlosen Anfänge, die Brandt in den 1960er Jahren im Gegensatz zu anderen Sozialdemokraten eine verständnisvolle Haltung gegenüber den Studentenbewegungen aufrechterhielt.
Brandt verstand, dass sich das politische Klima in den 1960er Jahren verändert hatte. Inmitten dieser widerspenstigen und auf der Straße verbrachten Tage lancierte er seine Losung: „Mehr Demokratie wagen“. Auf die gleiche Weise begrüßte Brandt Jahre später gegen viele Glaubensgenossen, darunter Helmut Schmidt, das Zeichen der Erneuerung, das von jungen Klimaaktivisten und Pazifisten, die in die offizielle Politik einbrachen, repräsentiert wurde.
Brandt verstand es, die Zeilen seiner Zeit zu lesen und von dort aus Stellung zu beziehen. Dank dieser Tugend verstand er, dass die Sozialdemokratie der Nachkriegszeit, wenn sie die marxistische Ideologie nicht hinter sich lässt, niemals eine Alternative sein kann, sondern nur ein ideologisches Nebenprodukt des 19. Jahrhunderts. Das bedeutete nicht den Verzicht auf ihre sozialen Fragen. Es ging nur darum, sie entsprechend den Institutionen zu kanalisieren, ohne der demokratischen Ordnung zu schaden. Brandt war nie bereit, Kämpfe für Freiheiten im Namen von Kämpfen für Bedürfnisse zu opfern. Er war kein Ideologe, geschweige denn ein Theoretiker. Er folgte nur einer Linie, die er für sich selbst gezogen hatte. Der Unterschied zwischen Ideologie, Theorie und politischer Linie ist hier nicht trivial.
Nach der Logik der Ideologien muss die Realität einem ideologischen Programm angemessen sein, und wenn die Realität mit diesem Programm nicht vereinbar ist, umso schlimmer für die Realität. Nach der Logik der Theorien muss die Realität Verifikationsprozessen unterworfen werden, aber da es keine Verifikation ohne Experimente gibt, geht es darum, die so genannte Gesellschaft in ein Laboratorium zu verwandeln. Einer Linie zu folgen bedeutet stattdessen, einige Grenzen zu setzen, um Politik zu kanalisieren, Grenzen, die niemals überschritten werden dürfen. Das ist der Unterschied zwischen einem realistischen Politiker und einem Opportunisten.
Für den Realisten ist das politische Leben dynamisch, und es ist notwendig, sich an diese Realität anzupassen, aber immer eine Linie einzuhalten. Für den Opportunisten gibt es keine Linie und damit keine Grenzen. In diesem Sinne ist die politische Flexibilität zu verstehen, die Willy Brandt stets gezeigt hat.
In gewisser Weise nahm Willy Brandt die Aussage Max Webers, dass die Politik ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich bedeutet, sehr ernst. Es ist die einzige Möglichkeit, dass die gesetzten Ziele jemals erreicht werden. So war es auch bei der Berliner Mauer. Als Bürgermeister hatte Brandt 1961 den Bau der Mauer miterlebt. 1989, an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl, während die Mauer von den Menschenmassen niedergerissen wurde, äußerte Brandt einen seiner legendären Sätze: „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“.Laut Egon Bahr sei dieser Satz bereits bei anderen Gelegenheiten von Brandt gesagt worden. Es war damals keine Improvisation. Dieser Satz enthielt das Endziel einer ganzen politischen Strategie.
Es war nicht das einzige Mal, dass Brandt einen historischen Satz äußerte. Sie zu sagen, war seine Spezialität. Er war nie ein langatmiger Redner. Seine Reden, in perfekter Diktion, sollten niemanden in Wahnvorstellungen versetzen. Seine Rhetorik diente dazu, verschiedene politische Momente zu erklären. Die präziseste zur präzisesten Zeit. Aus dem gleichen Grund richtete sich seine Polemik nicht an die Person der Gegner, er nannte sie nur selten beim Namen, aber er griff die Ideen, die diese repräsentierten, mit Klarheit an. Tatsächlich verstand Brandt Politik als einen Kampf der Ideen, und seine Phrasen dienten der Funktion, Markierungen auf dem zurückgelegten Weg zu setzen. In gewisser Weise war er ein Historiker der Gegenwart. Daher die Bedeutung, die er den Zeichen und Gesten beimaß.
Zwei, die sich verstehen: John F. Kennedy und Willy Brandt. Konrad Adenauer bleibt in Berlin nur die Nebenrolle. (Bild: ndr.de)
Heute ist der 50. Jahrestag der emblematischsten Geste Willy Brandts und der wichtigsten in der deutschen Nachkriegsgeschichte: der Kniefall vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto. An diesem Tag verstanden nur wenige die Bedeutung dieser Geste: Der Kanzler der mächtigsten Nation Europas lag trotz all seiner Macht auf den Knien.
Willy Brandts konservative Feinde haben ihn schnell kritisiert. „Ein Kanzler kniet niemals nieder“. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung war mit der Warschauer Geste nicht einverstanden. Was ging diesem Mann durch den Kopf? Helmut Schmidt, immer ätzend, sagte seinerseits: „Ich hätte es nie getan“. Natürlich war Schmidt nicht Brandt.
Die von Brandt angeführte Begründung für sein Knien hätte nicht einfacher sein können. „Ich hatte das Gefühl, dass es nicht ausreicht, eine Blumenkrone aufzusetzen. Das war zu wenig. Es musste etwas getan werden”. Das Gefühl und die Emotion gingen seinem Denken voraus. Der Kanzler zeigte damit auf, dass es Zeiten gibt, in denen Worte und Rituale nicht ausreichen, um Schmerz und Reue auszudrücken.
Ein Jahr später, 1971, als Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhielt, zeigten alle Bilder in den Zeitungen wieder einmal den großen Staatsmann auf den Knien. Erst dann war es möglich zu verstehen, was Willy Brandt mit seiner Warschauer Geste gemeint hatte.
Heute verstehen wir es mehr als früher. Brandt kniete vor den Opfern des Nationalsozialismus nieder, aber er zeigte der Welt auch, dass die ganze Macht der Erde, jene Macht, zu deren Repräsentanten er selbst gehörte, nicht in sich selbst endet. Dass es jenseits der Macht der Welt eine andere Macht gibt, der wir Tribut und Demut schulden. Eine Macht, die über und jenseits der Macht steht. Eine Macht, vor der sich alle Mächte der Welt verneigen sollten. Nie war ein Staatsmann größer, als wenn Willy Brandt vor der wahren Macht kniete.
Willy Brandt war ein Politiker und mochte daher die Macht. Der Unterschied besteht darin, dass Brandt wusste, dass es nichts Nebensächlicheres und Vergänglicheres gibt als politische Macht. War das der Grund, warum er, als der Sturm von Guillaume aufflammte, beschloss, zurückzutreten?
Die wahren Gründe für Brandts Rücktritt (1974) wurden erst einige Zeit später bekannt. Sie waren schon vor dem Fall Guillaume im Gange. Brandt trat zurück, weil er sich von seiner eigenen Partei nicht unterstützt fühlte. Er war einfach nicht in der Lage, den Verschwörungen unter der Führung des skrupellosen Herbert Wehner zu widerstehen. Er war nicht dafür geschaffen. Den meisten deutschen politischen Kommentatoren zufolge war Willy Brandts großes Versäumnis seine extreme Sensibilität.
Brandt hatte nicht die „harte Haut“, die von einem politischen Kämpfer verlangt wird. Nicht Kritik, sondern Intrigen verstärkten seine angeborenen depressiven Tendenzen. Diejenigen, die ihn kannten, weisen darauf hin, dass auch er die Vergehen seiner Feinde nicht gut vertrug. Er liebte die Macht und verfolgte sie zweifellos. Aber nicht um jeden Preis. Das unterschied ihn von seinen Kollegen.
Oder vielleicht wusste Brandt, dass wahre politische Macht nicht nur in ihrer Instrumentalität liegt? Vielleicht hätte er verstanden, dass er abseits der Regierung noch mehr Macht haben könnte, wie er es tat. Natürlich nicht die Macht, anderen zu befehlen, sondern eine andere Macht, die von Anerkennung, Intelligenz und Vernunft inspiriert ist. Es könnte auch sein - aus historiographischer Sicht sollten wir nichts ausschließen -, dass Willy Brandt, ohne sich seiner Taten voll bewusst zu sein, mit seinem Rücktritt eine neue Ära vorweggenommen hätte, in der Sensibilität und Anstand auch als große politische Tugenden gelten könnten. Heute kann man Rücktritte anders sehen und nur die Zeit interpretiert sie, als wenn eine andere große deutsche Persönlichkeit, Papst Benedikt XVI., sein Papsttum niederlegte und damit nicht nur ein großes Zeichen für die Welt und die Kirche setzte, sondern auch eine neue Ära einleitete.
Willy Brandts Gedanken, sein Knien in Warschau und seine Ideen prägen die deutsche Politik bis heute. Ich denke, den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands miterlebt zu haben, war für ihn ein Geschenk des Schicksals der Geschichte. Willy Brandt konnte vor seinem Tod sehen, dass er eine Tür geöffnet hatte, die nie wieder geschlossen werden würde. Es wird dem Gewissen der nächsten Generationen überlassen bleiben, einen umstrittenen Mann zu bestrafen oder aufzuwerten. Was wir heute nicht leugnen können, ist, dass er nie in Vergessenheit geraten wird. Das ist sein Schicksal.
„Die schlimmste der Verachtungen ist diese, daß wie gesagt jeder, wie er so steht und geht, über die Philosophie überhaupt Bescheid zu wissen und abzusprechen im Stande zu seyn überzeugt ist. Keiner andern Kunst und Wissenschaft wird diese letzte Verachtung bezeigt, zu meynen, daß man sie geradezu inne habe“ (Hegel: 9).
Wer kennt es nicht? Man ist auf einer Party, mischt sich entspannt einen Gin-Tonic und gesellt sich zu den anderen Gäst*innen. Es ist ein schöner Abend und die Leute beginnen, leicht angetrunken, zu 'philosophieren'. – Die Anführungszeichen sind hier gewollt, weil es ein großes Missverständnis in der Öffentlichkeit gibt, was Philosophie eigentlich ist. –
Nun ja, also es wird über das Leben geredet, erstmal alles gut, doch dann beginnt eine Person über ihr Schicksal (sic!) zu reden, dessen Verlauf sich scheinbar aus dem letzten Horoskop entnehmen ließe. Zudem wird ihm von der Klatschzeitschrift Brigitte auch direkt die passende Homöopathie dazu empfohlen. An sich gibt es kein Problem damit, wenn Leute einem Aberglauben verfallen, dieses Phänomen ist seit langer Tradition ein Teil unserer Kulturen. Schon Nietzsche beschreibt, wie der Mensch dem Priester zuwider handelt und deshalb überhaupt erst der Begriff der Sünde auf die Bühne tritt (vgl. Nietzsche: 49). Er kritisiert den Glauben, sobald er als „Imperativ“ gesetzt wird, als „das Veto gegen die Wissenschaft, – in praxi die Lüge um jeden Preis“ (Nietzsche: 88).
Den Konflikt, den er beschreibt, sieht man auch bei den Sterndeuter*innen. Auf der einen Seite stehen die Leute mit vagen Erzählungen und Narrativen (Astrolog*innen) und auf der anderen diejenigen, welche sich der wissenschaftlichen Erforschung „der räumlichen Anordnung, der Bewegung und der physisch-chemischen Beschaffenheit der Himmelskörper“ (Regenbogen und Meyer: 74) hingeben (Astronom*innen). Der Unterschied lässt sich schon im Ursprung der Begriffe erkennen. Aus dem Alt-Griechischen übersetzt heißt ersteres „Sternlehre“, zweiteres „Sterngesetzlichkeit“. Ersteres wird des Weiteren auch als „Sterndeutekunst“ verstanden (vgl. Regenbogen und Meyer: 74). Diese Deutungen wollen erklären, welche Ereignisse unseres Lebens und welche Charaktereigenschaften auf welche Weise auf die Sterne und deren Einflüsse zurückzuführen seien. Das wohl berühmteste Beispiel ist hier das Vollmond-Phänomen: plötzlich kann niemand mehr vernünftig Auto fahren (sagen Autofahrer*innen), die Leute werden aggressiv oder 'spinnen vollkommen' – der Mond beeinflusse angeblich das Blut der Menschen, wie das Wasser, und würde so unsere Fähigkeiten und Gefühlslage beeinflussen.
All das kann nur dadurch erklärt werden, wenn das Universum einem einzigen riesigen Organismus (Makrokosmos) gleichgesetzt wird, der alle Teile dadurch miteinander verbindet und beeinflusst (Mikrokosmos). Schon im alten Griechenland wird daher von einer Allnatur oder einem Urprinzip geredet – allerdings aus einer Unkenntnis heraus. Wir wissen es heute besser: die Erde ist keine Scheibe und das Weltall unendlich (bis jetzt). Die Aufklärung und die Kenntnis um die Evolution haben den Schicksalsgedanken abgesetzt und durch ein „Wirkenwollen durch den Verstand“, eine „Neugestaltung des Lebens auf Grund vernünftiger Einsichten und Ansichten“ (Regenbogen und Meyer: 78) ersetzt. Dass der Mensch über Jahrtausende geworden und nicht plötzlich geschaffen ist, zeichnet heutzutage jeden seriösen wissenschaftlichen Konsens aus. Vor allem Denker*innen wie Immanuel Kant ist es zu verdanken, dass der Mensch sich zunehmend aus der Dunkelheit des Autoritätsglaubens (sog. Aberglaube) befreit und weiter in das Licht der Autonomie, Vernunft und Freiheit geht.
Dieser Schritt, diese Befreiung vom Schicksal und der Unmündigkeit des Determinismus, wird auch in der Literatur Goethes beschrieben. In seinem Theaterstück „Iphigenie auf Tauris“ können die Zuschauenden erkennen, wie dieser Wandel vonstatten geht. Von einer göttlich-determinierten Priesterin wandelt Iphigenie sich zur autonomen Persönlichkeit, welche an die Wahrheit und Menschlichkeit appelliert.
Aber nicht erst in der Neuzeit gab es diesen Konflikt. Schon in der Antike haben Aristoteles und Platon verschiedene Meinungen. Laut Platon, dessen Seelenlehre immer noch diskutiert wird, suchen sich die ewigen Seelen vor ihrem Eintritt in die Welt ihre heimarmenë aus, die Verkörperung eines unabwendbaren Schicksals, welches sie mit „Notwendigkeit durchleben müssen“ (vgl. Regenbogen und Meyer: 582). Aristoteles hingegen sagt in seiner Nikomachischen Ethik, dass „der Mensch ebenso das Prinzip und der Erzeuger seiner Handlungen sei wie seiner Kinder“ (zit. in Regenbogen und Meyer: 583). Der Diskurs über die Mündigkeit und Haftung für das eigene Leben haben also schon eine lange Tradition. Erst durch das Christentum verfällt diese antike Idee von Individualität, Pluralismus und Selbstgestaltung wieder. Es bringt „Geständniszwang“ und „Selbstenthüllung“ mit sich (vgl. Heinrich: 188f), die dem Priester die Möglichkeit geben in das Leben der Gläubigen einzugreifen und es zu manipulieren.
Über die Epochen hinweg hat die Menschheit in Europa es geschafft, dem Kreuzzug-Spuk zu entsagen und sich weiter der Vernunft hinzugeben. Die Diskurse wurden aufgrund neuer Freiheiten diverser, es konnten neue Erkenntnisse ohne Angst vor der Inquisition diskutiert werden. Dieses Fortschreiten lässt die Erwartung aufkommen, dass die Geisteshaltungen jüngerer Generationen offener würden. Diese Erwartungen werden jedoch zuteilen enttäuscht. Immer häufiger finden irrsinnige Bewegungen wie Flat-Earthers, Astrolog*innen, Verschwörungserzähler*innen und Populist*innen Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs. . „Sapere aude!“ sagte einst Kant, damit meinte er den stetigen Prozess und Pfad der Aufklärung in die eigene Mündigkeit. Dieser verlangt jedoch kritisches Denken, Selbstreflexion und -erkenntnis. Zuweilen aber entsteht der Eindruck, dass diesem Prozess oftmals abgedankt wird und sich eine Art Angst vor jenen Vorgängen breitmacht, die eine Flucht in die Oberflächlichkeit und Einfältigkeit begünstigt. Was allerdings zurecht Angst erwecken kann ist die Erkenntnis, dass wir radikal verantwortlich sind (Sartre), nach der wir nur begrenzt so weiterleben können wie bisher (Camus), Entscheidungen müssen aktiv getroffen werden, wofür niemand außer wir selbst die Verantwortung tragen kann. Das ist das 'Laster' einer freien, demokratischen Gesellschaft.
Vor dieser Verantwortung drücken sich die Leute aber nunmal. Sie suchen sehnlichst nach Alternativen, Auswegen und Voraussagen. Sie sind überfordert und wollen von der Verantwortung, die sie so quält, entbunden werden. Die Astrologie macht ihnen da – attraktiver als die Kirchen – ein Identitätsangebot. Das Gute für ihre Befürworter*innen ist, dass sie keinem Dogma folgt und daher einen „Notausstieg“ offenhält (vgl. Liebert). Die Menschen sehnen sich in den sozialen Netzwerken nach Bestätigung und verfallen der falschen Normalität.
Harald Welzer beschreibt diese Vorgänge in seiner Analyse „Die smarte Diktatur“:„Angebote zur Regression wirken entlastend, Freiheitsangebote belastend“ (Welzer: 227). Freiheit bedeutet die „Abwesenheit von Zwang“ und damit „ein gesellschaftlich bereitgestellter Raum zur Ermöglichung von selbstbestimmten Leben“ (Welzer: 107). Dieses Bestimmen beinhaltet aber Haftung und Rechtfertigung. Das halten viele nicht aus, sie wollen sich nicht festlegen, weshalb ein „Notausstieg“ sehr anmutend zu sein scheint. Es wird möglich zu sagen, dass irgendein prophezeiter Blödsinn auf einen zustimmt (Barnum-Effekt); aber wiederum bleibt die Möglichkeit diesen Humbuk als Spaß oder Unterhaltung zu degradieren – natürlich erst im Nachhinein.
Für das praktische Handeln sind Schicksale aber immer hinderlich. Welzer behauptet „Schicksal schließt Politik aus. Und Umgekehrt: Politik schließt Schicksal aus.“ (Welzer: 235). Darin steckt allerdings eine tiefe Wahrheit, denn durch dieses sogenannte Schicksal haben bereits die Puritaner*innen begründet, warum sie das auserwählte Volk und die USA der ausgewählte Staat seien: Sie wurden von Gott entsendet – Schicksal halt. Das bildet fruchtbaren Boden für Nationalismus, Militarismus und schließlich Faschismus. Die kleinen Veränderungsspielräume, die uns die Politik gibt, werden vom Schicksal zerstört: es ist Schicksal, dass die Flüchltinge im Mittelmeer ertrinken, wir können ja nichts dafür, dass sie hier oder dort geboren wurden. – Falsch; es ist reiner Zufall (sic!), der uns hier in Europa und andere woanders in die Existenz geworfen hat. Nicht Gott, die Sterne oder andere Autoritäten sind für unsere Position verantwortlich, sondern soziologische, biologische, historische und gesellschaftliche Faktoren, welche uns zu den Menschen machen, die wir sind. Und dabei ist es ganz wichtig zu erkennen, dass diese Dinge veränderbar (wir können uns zu ihnen verhalten) und nicht als Form vorgegeben sind – sonst wohnten wir immer noch halb nackt in Höhlen.
Die Gefahr der Regression erkannte schon Theodor W. Adorno. Früh nach den Schrecken des zweiten Weltkrieges und der Shoa analysierte er die Verführbarkeit des Menschen. Für ihn hatten Sterndeuterei und Totalitarismus eine entscheidende Ähnlichkeit: beide meinen „für alles einen Schlüssel zu besitzen, alle Antworten zu kennen“ und „beide reduzieren das Komplexe auf einfache und mechanische Folgerungen und räumen beiseite, das seltsam und unbekannt ist, während sie gleichzeitig rein gar nichts erklären“ (zit. in Stöcker). Zu dem oben bereits beschriebenen ergänzt Christian Stöcker mit Adornos Worten, dass die Menschen Schwierigkeiten hätten, „ihre umfassende Abhängigkeit von 'menschengemachten Bedingungen' zu akzeptieren, weil sie sonst Verantwortung übernehmen müssten.“ Die Angst vor der Verantwortung und der Selbstständigkeit (selbst und ständig) lässt die Leute ihr empfundenes Versagen auf von ihnen unbeeinflussbare und vermeintlich externe Faktoren verschieben: 'dazu bin ich nicht geschaffen', 'das kann ich einfach nicht', 'du hast doch gesagt, dass x'. Es ist dasselbe Muster. Es scheint als sehnten sich manche Menschen nach einer, alle Antworten gebenden, Autorität, welche ihnen jede Entscheidung abnimmt. Die Wirklichkeit ist immer komplexer geworden, immer mehr Faktoren und Facetten müssen berücksichtigt werden, das schürt den Wunsch nach einer Reduktion dieser Komplexität, die zum Beispiel der Populismus bieten kann, da er sich der Wirklichkeit verschließt und sie auf einzelne Phänomene, zum Beispiel Migration, reduziert. Minderheiten als Sündenböcke zu nutzen, haben bereits die Nationalsozialisten vorgemacht.
Die Sterndeuter*innen tun so, als wüssten sie wer ich bin (vgl. Liebert), sie nehmen mir die Mühe der Selbsterkenntnis und den Schrecken, den eine solche mit sich bringen kann – die Angst vor dem Falsch-liegen. Diese Angst nehmen uns dann auch im nächsten Schritt 'personalisierte Algorithmen'. Durch die Analyse unserer Daten und allem, was wir ins Netz einspeisen, ergibt sich ein Profil, das missbraucht werden kann. Auch in freiheitlich-demokratischen Staaten steht die Privatssphäre immer mehr unter Druck. Wir leben nicht in einer Diktatur, Verletzungen der Privatssphäre sind jedoch auch hier sehr aufmerksam zu verfolgen und es gilt diesen juristisch entgegenzuwirken. Solange Menschen Räume haben,
„in d[ie] niemand anderer, schon gar nicht der Staat, eindringen kann, sind sie nicht vollständig beherrscht. Deshalb ist in allen Diktaturen 'das Selbst das erste besetzte Gebiet' (Günther Anders)“ (Welzer: 197).
Wenn also unsere Identitätsbildung von Medien und Inhalten abhängt, die jederzeit und von jeder möglichen Personengruppe beeinflusst oder gar manipuliert werden kann, besteht die Gefahr, dass unser Selbstbild und unsere Selbstwahrnehmung getäuscht werden. Durch das Phänomen der sozialen Medien werden Menschen zunehmend potenziell überfordert. Vermehrt bekommen sie das Gefühl ihr Selbst und ihre eigene Persönlichkeit reichten nicht aus, um sich in der Welt behaupten zu können. Junge Menschen messen sich aktuell oft mit Influencer*innen, welche ihnen eine falsche oder in Teilen unwahre Realität präsentieren, die wiederum bestimmte Erwartungen an das eigene Leben stellt, die aber mehrheitlich nicht erfüllbar sein können. Sie fliehen in die Vorhersagen von Horoskopen, in personalisierte Inhalte, da ihnen dort vermittelt wird sie seien besonders, wobei sie eigentlich nur typisiert werden. Jung und alt bildet in Facebook-, Telegram- oder Instagramgruppen eine immer dichter werdende Bubble, die schlussendlich unter anderem ihre (politischen und ökonomischen) Wahlentscheidungen beeinflussen und zu Radikalisierungen führen kann. Unter richtiger Anwendung können so langsam Demokratien zu Fall gebracht werden. Wir sehen es schon heute, wie Menschen, die sich zunehmend einem faktenbasierten Diskurs verweigern und entfernen, den Bundestag stürmen wollten, darunter vor allem auch Esoteriker*innen, welche besonders mit der Astrologie und den 'Energien der Sterne' verbunden sind.
Schlussendlich sollte hinterfragt werden, was der Mensch von der Flucht in das Schicksal hätte. Natürlich, es entlastet, es bietet eine Art der metaphysischen Sicherheit und Bestätigung (im Sieg, wie in der Niederlage). Die Aussicht auf einen Lauf der Dinge, den man nicht beeinflussen kann – selbst wenn man wollte – kann befreiend wirken, nimmt den (Erwartungs-)Druck. Warum sollte sich einer Religion, Berufung oder 'natürlichen' Begebenheit, wie der Armut meines Gegenübers, widersetzt werden, wenn diese ohnehin von einer unbesiegbaren Macht vorgeschrieben und festgelegt ist? Bei einer solchen Ansicht wäre nur noch das Denken der Stoa hilfreich, welches besagt, man solle sich durch Apatheia (Freiheit von Leidenschaften), Autarkie (Selbstgenügsamkeit) und Ataraxie (Unerschütterlichkeit) eine Affektkontrolle aneignen, die einem das Leben mit dem vorgegebenen und unveränderlichen Geschehen erleichtert und so das Abfinden mit dem Schicksal ermöglicht.
Was aber weit vielversprechender zu sein scheint, ist das Konzept der Bildung von Peter Bieri, das die Erkenntnis der eigenen historischen Zufälligkeit beinhaltet. In seiner Rede„Wie wäre es gebildet zu sein?“ leitet er her, dass sich aus der Frage nach dem Ursprung bestimmter Begebenheiten nur das Bwußtsein von „der Kontingenz und also [die] Relativität einer jeden Lebensform“ (Bieri: 5) ergeben kann. Damit würden allerdings nicht jene Teile einer Kultur, Religion, Glaubensansicht oder Überzeugung entwertet, sondern im Gegenteil aufgewertet. Dies wird damit erklärt, dass jene zwar als kontingent, zufällig und daher relativ zu betrachten seien, aber durch die Frage und die damit einhergehende Überprüfung wie jemand leben wollte (sic!) eine viel qualifiziertere Identitätsbildung zulassen. Es wird dadurch ein größerer Wert geschaffen, da der Mensch es „nicht mehr mit einem unverfügbaren Schicksal, sondern mit einer freien Wahl zu tun“ (Bieri: 5) habe. Ist es denn nicht logisch, dass den Dingen mehr Wert zugesprochen wird, die sich jemand selbst ausgesucht und denen er*sie sich aus freien Stücken hingeben hat, als solchen, die ihm*ihr „von einer fremden Instanz“ vorgeschrieben wurden? Auch wenn das um einiges mehr Unsicherheit und einen anstrengenden Prozess beinhaltet, scheint mir diese Art des Lebens mehr dem Ideal und Ziel eines freien Menschen in einem freien Land zu entsprechen als der, einer wirren Ideologien zu folgen, die eine*n womöglich vereinnamen oder von der eigenen Verantwortung lossprechen wollte. Denn immerhin hat sich jede*r schlussendlich selbst zu verantworten, egal ob vor einem 'jüngsten Gericht' oder einem irdischen Richter eines Rechtsstaates.
„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
Georg Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972, S. 14.